Was hat Karl Marx uns heute zu sagen?
Bildmontage: HF |
von Gerd Elvers
Aktuelle Anlässe sich mit Marx zu beschäftigen.
Mit Marx kann man sich immer beschäftigen. Aktuelle Gründe geben Anlass, nicht hundert- fach Bekanntes zu wiederholen, sondern sein Werk auf einen immerwährenden kritischen Prüfstand zu stellen: Anlass dazu geben der Abschluss der drei Bücher im ökonomischen Hauptwerk „Kapital“ durch die Berlin-Branden- burgische Akademie der Wissenschaften in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).
Weiterhin: Mit der Weltkrise ist eine „Marx-Renaissance“ angebrochen, die zu neuen Publikationen deutscher Verlage geführt hat. Marx Bedeutung als Theoretiker und Historiker des Kapitalismus (Werner Sombart) hat eine brennende Aktualität auch außerhalb linker Kreise erlangt.
Was kann dieser Schöpfer der Moderne uns zur Finanzkrise sagen, zur Systemrelevanz der „unsterblichen“ Deutschen Bank und der Metaphysik des Kapitals, zur Rolle des deutschen Justizapparates heute im Vergleich zu Chicago der Zeiten 'Al Capones'?
Weiterhin: Mit der Weltkrise ist eine „Marx-Renaissance“ angebrochen, die zu neuen Publikationen deutscher Verlage geführt hat. Marx Bedeutung als Theoretiker und Historiker des Kapitalismus (Werner Sombart) hat eine brennende Aktualität auch außerhalb linker Kreise erlangt.
Was kann dieser Schöpfer der Moderne uns zur Finanzkrise sagen, zur Systemrelevanz der „unsterblichen“ Deutschen Bank und der Metaphysik des Kapitals, zur Rolle des deutschen Justizapparates heute im Vergleich zu Chicago der Zeiten 'Al Capones'?
Vorläufiger Abschluss von Teilen des Gesamtwerkes von Karl Marx
Mit dem Teilband 4.3 der ökonomischen Schriften ist die Abteilung II (Das „Kapital“ und Vorarbeiten) der Marx/Engels-Gesamtausgabe (MEGA) abgeschlossen. 15 Doppelbände (jeweils Schriften und Apparat, zwei Werkziffern mit zusammen neun Teilbänden liegen vor. (1). Es verwundert, dass erst nach 150 Jahren Marxens Werk in seiner Gesamtheit erfasst wird, bisher nur ein Teil seines gesamten Oeuvres, wie in der Akademie ausführlich dokumentiert wird.
Das wirft einige Fragen auf, die seine Arbeitsweise, die Werkgenese, sowie Interpreta- tion und Weiterentwicklung seiner Arbeiten durch den sogenannten „Marxismus“betreffen. Wenn erst jetzt ein Teil seines Werkes in vollständiger Weise der Öffentlich- keit präsentiert wird, was war dann vorher? Wie konnten Marxisten auf ihn bauen, wenn sie nicht seine ganze Arbeit kannten und bis heute nicht kennen?
Das wirft einige Fragen auf, die seine Arbeitsweise, die Werkgenese, sowie Interpreta- tion und Weiterentwicklung seiner Arbeiten durch den sogenannten „Marxismus“betreffen. Wenn erst jetzt ein Teil seines Werkes in vollständiger Weise der Öffentlich- keit präsentiert wird, was war dann vorher? Wie konnten Marxisten auf ihn bauen, wenn sie nicht seine ganze Arbeit kannten und bis heute nicht kennen?
Diese Einsicht in eine unvollkommene Quellenlage ist nicht neu. Zwar gab es eine Zusammenstellung der wichtigsten Werke von Marx (und Engels) vor allem in der Sowjetunion vor dem 2. Weltkrieg. Diese standen aber unter dem Vorbehalt, dass Lücken bestanden. Es sind die Marx-Engels-Werke (MEW) im Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau. Diese Arbeiten hat der Dietz Verlag, Berlin in der DDR publiziert, und auf diesem Weg fanden die Arbeiten auch in Westdeutschland wieder sein Publikum (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, SDS), nachdem die schon in der Weimarer Republik und vorher publizierten Bücher weitgehend dem Vandalismus der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen waren.
Der ukrainische Marxist Roman Rosdolsky, der knapp dem stalinistischen Terror entkommen war, beklagte sich in seiner deutschen Vorrede zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapitals“ – ein Jahr nach seinem Tod in den USA - dass in der westlichen Welt nach dem Kriege gerade einmal 3 oder 4 Werke der „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Rohentwurf“ von 1939 aus der Sowjetunion vorhanden waren, und er bedankt sich beim Bibliothekar der Jos. Buttinger-Bibliothek in New York, O. Bauer, der ihm eines der raren Exemplare zur Verfügung gestellt hatte (2).
Marx Materialismus als Grundlage seines Denkens
Bevor wir zur Beantwortung der Frage kommen, welche Relevanz die unvollkommene Quellenlage für die Interpretation von Karl Marx haben könnte, wenden wir uns der methodologischen Arbeitsweise von Karl Marx zu. Dass Karl Marx sich der Entzifferung der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus zuwandte und aus ihr das geschichtsträchtige politische Handeln ableitete, was in seiner Wortschöpfung„politische Ökonomie“ kondensierte, entspringt - wahrscheinlich - seiner„materialistischen“ Denkweise, die er schon in seiner Dissertation über die „Atomisten“(Demokrit) im Kontrast zu den platonischen „Idealisten“ anwendete. Wie der neuesten Kommentierung der Engländerin Gereth Stedman Jones zum Kommunistischen Manifest 1848 zu entnehmen ist, stand beim „frühen Marx“ noch nicht die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft im Mittelpunkt seines Denkens, sondern die Auseinandersetzung mit Hegel auf der philosophischen Ebene, dessen idealistische Kopfgeburten er in bekannter Weise auf die materiellen Füße stellen wollte.
Im Gegensatz zu Hegel war für Marx der Motor der Weltgeschichte nicht die Entfaltung des „Welt-Geistes, sondern das Aufeinandertreffen sozialer Kräfte (3). Er wandte sich nicht von Hegel ab, sondern korrigierte ihn. Nicht ohne eine besondere Motivation. Mit dieser „kritischen Korrektur“ des damals dominierenden geistigen Übervaters rettete er dessen dialektische Methodik als markanter Bestandteil seines eigenen Denkens. Von dem eigentlichen Gegenspieler zu Hegel, dem dänischen protestantischen Theologen Sören Kierkegaard, der seine persönlichen existenziellen Nöte in der spekulativen Philosophie von Hegel nirgends aufbewahrt fand, hat Marx wahrscheinlich nie Kenntnis genommen, obwohl er in diesem Gründer des Existenzialismus einen zeitgleichen „Mitleidenden“ hätte finden können.
Im Gegensatz zu Hegel war für Marx der Motor der Weltgeschichte nicht die Entfaltung des „Welt-Geistes, sondern das Aufeinandertreffen sozialer Kräfte (3). Er wandte sich nicht von Hegel ab, sondern korrigierte ihn. Nicht ohne eine besondere Motivation. Mit dieser „kritischen Korrektur“ des damals dominierenden geistigen Übervaters rettete er dessen dialektische Methodik als markanter Bestandteil seines eigenen Denkens. Von dem eigentlichen Gegenspieler zu Hegel, dem dänischen protestantischen Theologen Sören Kierkegaard, der seine persönlichen existenziellen Nöte in der spekulativen Philosophie von Hegel nirgends aufbewahrt fand, hat Marx wahrscheinlich nie Kenntnis genommen, obwohl er in diesem Gründer des Existenzialismus einen zeitgleichen „Mitleidenden“ hätte finden können.
Weiterer Ausgangspunkt seines „frühen Denkens“ waren die Frühsozialisten, Adam Smith als Ökonom des modernen Kapitalismus sowie – was meistens übersehen wird – die historische Rechtsschule von Friedrich Carl von Savigny. Wie seinem Brief vom 10. November 1837 an seinen Vater zu entnehmen ist, lernte er in seinem Rechtsstudium zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden, zwischen formalen Begriffsbestimmungen und den materiellen Inhalten. Eine weitere Erkenntnis war die Geschichtlichkeit von Rechtssystemen. Es gibt kein „ewiges“ Recht, sondern seine Abhängigkeit von der Zeit, ein Gesichtspunkt, den er auf die gesellschaftlich-politische Systeme übertrug.
Die geheimen Gesetze der menschlichen Produktionsweise
Es zählt bis heute zu den nicht geklärten Umständen, warum die gesetzlichen Abläufe des wichtigen Elements menschlicher Existenzbewahrung, die Ökonomie, lange Zeit ungeklärt blieben. In der Antike findet sich kein Autor, der die Grundlagen der Sklavenwirtschaft mit dem gleichen Ehrgeiz erforschte, wie die Logik, die Mathematik und Geometrie, die Mechanik, die Ethik, die „res publica“, die römische Staats- und Rechtsphilosophie. Ein möglicher Erklärungsgrund: Man wurde in einen bestimmten Stand hineingeboren, in eine vordefinierte Familien- und Arbeitswelt und empfand diesen Zustand als natürlich, so dass sich Fragen erübrigten. Heute ist der allgemeine Stand des Wissens, abgeleitet von Marx` Methodik der Geschichtsinterpretation, dass die billige Sklavenarbeit innovative Initiativen zur Fortentwicklung der Gesellschaft versperrte. Das Versagen der antiken Philosophie, das Nichthinterfragen der Sklavengesellschaft als ein unproduktives System, wird auch in bürgerlichen Kreisen als ein wesentlicher Grund für den Untergang des römischen Weltreichs angesehen. Es musste eine vorderasiatische Religion, das Christentum kommen, um ein morsch gewordenes ökonomisches Gebilde auf der Basis der Sklavenarbeit hinweg zu räumen. Allerdings änderte der gottgewollte Gang in die mittelalterliche Leibeigenschaft nichts Entscheidendes im weiterhin träg ablaufenden ökonomischen und gesellschaftlichen Prozess.
Erst mit der Entstehung des Kolonialismus, der modernen Handels- und Geldkontore, der Erfindung der doppelten Buchführung, der modernen Sklavenwirtschaft sowie dem globalen Welthandel, entstand die erste philosophisch-ideologisch begründete „Aufklärung“ über die neuen Zustände nach dem Mittelalter in den höchstentwickelten Ländern England, Frankreich, Holland. Marx erkannte, dass die im Mantel der Aufklärung auftretenden neuen Lehren verschleiernde Rechtfertigungen der gesellschaftlichen Zustände seien Der Philosoph John Locke zum Beispiel bildete im Dienste der in England entstehenden früh-kapitalistischen Gesellschaft ein waghalsiges Ideen-Konstrukt, das Freiheit und Gleichheit der Menschheit allgemein – auf das sich der Kapitalismus bis heute beruft - mit dem modernen konkreten Sklavensystem Englands im Speziellen harmonisieren sollte. Nach Franz J. Hingeklammert verband er das ökonomische Interesse der modernen Sklavengesellschaft mit der Entfesselung eines freien Marktes wie es auch in die Unabhängigkeitserklärung der USA von Thomas Jefferson hineingeschrieben wurde, ..all men are created equal.., mit der Ausnahme der Sklaven(4) .
Nationalökonomische Vorgänger: Quesnay, Smith, Ricardo
Aber auch mit dem Auftreten der gesellschafts- und staatspolitisch orientierten Philosophen der Aufklärung wurde weiterhin das Untersuchungsobjekt der Ökonomie als ein die Gesellschaft tragender Prozess vernachlässigt. Dringende Fragen, nach welchen Regeln die Ökonomie funktioniert, wie ihre Prozessabläufe sind, wie sich die sich neu bildende kapitalistische Marktwirtschaft von dem vorangegangenen Wirtschaftsmodell, dem Merkantilismus, unterscheiden, fanden kaum Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Was dem Menschen am nächsten stand, war ihm am fremdesten. Das gilt für sein Wirtschaften wie für seinen Körper. Es war der Mediziner Francois Quesnay, der als Vater der Physiokratenschule – noch dem Merkantilismus verhaftet - die erste theoretische Lösung der Prozessabläufe fand, unabhängig von einer konkreten Wirtschaftsordnung. Mit der Entdeckung des Blutkreislaufes im menschlichen Körper bot sich die Analogie für die Wirtschaft an.
Wie das Blut vom Sauerstofftransport aus den Lungen in den Körper zur Gewinnung von Energie für die Muskulatur und zurück zum Herzen fließt, bot sich die Zirkulation des Geldes als ein „Transportmittel“ in der Wirtschaft an, von den Produzenten zu den Konsumenten und von dem Erlös der verkauften Waren zurück zu den Produzenten, den Arbeitern und den Eignern der Produktionsmitteln. Marx implantierte das Geld in den „Zirkulationsprozess des Kapitals“ in seinem 2. Buch des „Kapitals“, einen Zirkulationsprozess, der in maskierten Metamorphosen (Umwandlungen) über Geld und Ware zum eigentlichen Ziel führte, die Profitmaximierung als den Energiemotor des Kapitalismus. In Quesnays tableau économique, der Abbildung des Kreislaufes, fand Rosa Luxemburg in ihrem Werk „Die Akkumulation des Kapitals“ den „verzweifelt gesuchten Übergang“ von der einzelwirtschaftlichen Zirkulation zum „Gesamtkapital und zugleich zum gesamtwirtschaftlichen Warenaustausch (5).
Erschwerte Arbeitsbedingungen auf dem Weg zum „Kapital“
Um sich ans Werk zu machen, die kapitalistische Funktionsweise zu enthüllen, studierte Marx in der Mitte des 19. Jahrhundert die relevanten greifbaren ökonomischen Werke, eine Sisyphusarbeit von 52 Büchern ((Roman Rosdolsky). Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der aus politischen Gründen aus Frankreich Vertriebene, verfolgt von der preußischen Staatspolizei in London als Emigrant den dauerhaften Unterschlupf fand. Ausgerechnet London, der weltweit optimalste Ort, um eine komplette Übersicht zum Thema Ökonomie für seine Studien in der British Library zu finden. Der Emigrant Lenin befolgte 50 Jahre später die gleiche Methodik, wertvolles Quellenmaterial in der Bayerischen Staatsbibliothek in München für seine Werke zu nutzen.
Die vor kurzem erfolgte Eröffnung zweier pompös ausgestatteter Lesesäle der Berliner Staatsbibliothek – ein Gesamt-Projekt von einer halben Milliarden Euro – mag eine Reminiszenz an eine vergangene wissenschaftliche Arbeitskultur sein, angesichts der heutigen digitalen E-Book-Welt. Was heute in Sekundenschnelle passieren kann – ein gewünschtes E-Book aufzuladen und für Studienzwecken zu Hause zu verwenden - bedeutete zur Marxens Zeit eine mühevolle Arbeit, ein Buch zu lesen und die interessierenden Passagen in „Heften“ einzutragen, um zu Hause an Hand der Materialien die Funktionsweise des kapitalistischen Prozesses zu entschlüsseln.
Noch vor London hatte er sich auf Adam Smith und David Ricardo, die schottischen Vertreter der neuen liberal-kapitalistischen Wirtschaftsform, fokussiert, deren Herkunft heute den schottischen Nationalisten als Argument für die Lostrennung von Großbritannien dient. Deren Theorie beruht auf Privateigentum, Geld- und Kreditwirtschaft, Vertragsfreiheit, Konkurrenz auf „freien“ Produkt- und Arbeitsmärkten. Über die „unsichtbaren Hände“ der Märkte sollte die optimale Allokation der Produktionsmittel herstellt werden.
Marx Verhältnis zur „klassischen Nationalökonomie“ ist zwiespältig. Einerseits boten sie einen ersten Einstieg in das Wirken des liberalen Kapitalismus. Andererseits widerstrebte es seinem Intellekt, an Hegels Philosophie geschult, den Ideologien des Kapitalismus zu folgen, die er als „falsches Bewusstsein“ verstand – wobei er die wissenschaftliche Leistung von Ricardo durchaus anerkannte. Die ökonomischen Klassiker folgten einem kapitalistischen Ideal, das aus Dissonanzen über den Marktmechanismus zum harmonischen Ausgleich, zum Äquilibrium führte, was trotz aller Dynamik, die dem Kapitalismus zu eigen ist, im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität der Ausbeutung, der krassen Einkommens- und Vermögensunterschiede steht. Nach einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit der Universität Bremen wirkt dieser Prozess weiter, so dass „Deutschlands Mitte bröckelt“.
Zitat DIW: „Die Ungleichheit beim Einkommen als auch beim Vermögen hat weiter zugenommen. Von den zusätzlichen Wohlstandsgewinnen hat in den vergangenen Jahren nur eine Elite in der Gesellschaft profitiert“. Marx erarbeitete ein eigenes wissenschaftliches System, um die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu enthüllen, wozu auch eine wachsende Ungleichheit zwischen den Klassen zählt, die systemimmanent ist und nicht – wie die Sozialdemokratie heute meint – durch staatlichen Interventionismus aufgehoben werden kann.
Zitat DIW: „Die Ungleichheit beim Einkommen als auch beim Vermögen hat weiter zugenommen. Von den zusätzlichen Wohlstandsgewinnen hat in den vergangenen Jahren nur eine Elite in der Gesellschaft profitiert“. Marx erarbeitete ein eigenes wissenschaftliches System, um die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu enthüllen, wozu auch eine wachsende Ungleichheit zwischen den Klassen zählt, die systemimmanent ist und nicht – wie die Sozialdemokratie heute meint – durch staatlichen Interventionismus aufgehoben werden kann.
Vorwegnahme moderner Disziplinen des Paradigmenwechsels, Strukturalismus, Systemtheorie, Soziologie und Psychologie in der Denk- und Arbeitsweise von Marx
Das „Abschreiben“ aus den verfügbaren Büchern zu Ökonomie, um das Material für die eigene Theorie zu gewinnen, war nicht nur eine immens zeitraubende Tätigkeit, die Jahre im relativ kurzen Leben von Marx beanspruchten. Beim Lesen führte er eine erste Selektion durch, was des Notierens Wert war oder nicht. Die erste Spreu schied sich vom Weizen. Eine vorgreifende Systematik hat er im Kopf gehabt, wie das Kommunistische Manifest und andere Schriften vorher belegen. Das Abschreiben war nicht bloßes Kopieren, es war der erste Schritt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Text anderer Denker, noch nicht geordnet, noch nicht entschieden, aber während des Notierens geschahen schon die ersten Abwägungen über Bejahung, Verwerfung oder neutralen Kommentierens.
An seinen Randnotizen der gelesenen Bücher und den Exzerpten ließen sich seine Gedankengänge rekonstruieren, was noch der philologischen Aufarbeitung harrt, wie der Brandenburgischen Akademie zu entnehmen ist.
Aber gering ist sein Bemühen um sein Exzerpieren von vorhandenen Büchern gegenüber den Mühen, die die Entwicklung einer eigenen Methodik, Begrifflichkeit, Strukturierung zum Verständnis des logischen Systems des Kapitalismus ihm bereitete. Dabei griff er modernen Theorien voraus. Seiner Revolutionstheorie im Gesellschaftspolitischen folgte viel später Thomas Kuhns Paradigmenwechsel im Naturwissenschaftlichen. Kuhn hatte es besser mit seinem „Traum der plötzlichen Erleuchtung“ als Marx. Dem Strukturalismus eines Althussers und der Systemlogik eines Luhmann vorausgreifend, ging er davon aus, dass das Kapital seiner eigenen Logik folgt, die einer vernunftsbegründeten Analyse zugänglich war – bis zur Irrationalität. Ohne diese Ordnung in seiner Unordnung hätte der Kapitalismus nicht seinen weltweiten Siegeszug antreten können. Zusätzlich benutzte Marx eine „soziologische Form des geschichtlichen und gesellschaftlichen Denkens“ (Stedman Jones) – bevor die soziologische Disziplin Jahrzehnte später universitäre Praxis wurde. Sein Freund Friedrich Engels hatte über die Lage der arbeitenden Klasse in England eine derartige soziologische Studie geliefert. Seine Ergebnisse gingen über das rein Ökonomische hinaus. In der „Entfremdung des Menschen“ hatte er auf materialistischen Wegen – die physische Trennung des Menschen von seinem Produkt durch das Privateigentum – zugleich die psychologische Kategorie des „Unbewussten“ entdeckt, das eine Affinität zu Freuds Begriff der „Verdrängung“ besitzt. Über die Lektüre von Marx konnte der Proletarier seine Funktion im Kapitalismus erkennen. Seine Ausbeutung durch das Kapital konnte er am eigenen Leibe unmittelbar spüren. Aber dieses Erleben aus einem unklaren Halbbewusstsein heraus in die Sphäre des Erkennens der wahren Ursachen der Ausbeutung als gesellschaftliches Phänomen und nicht als eine persönliche Marotte eines Vorgesetzten zu heben, war nur über Marx möglich.
Marx definierte die Moderne am Kapitalismus
Es machte sich bezahlt, dass er eine breite philosophische Ausbildung besaß, die die anderen „Klassiker der Ökonomie“ so nicht besaßen. Im „abendländischen Erbe“ von Hegel stehend und in seinem initiativen modernen Denken war er nicht nur Zeit seines Lebens der anerkannteste Denker im linkskritischen Milieu sondern beeinflusste auch maßgeblich die bürgerliche Welt. Begriffe wie Politische Ökonomie, Kapitalismus, Ausbeutung, Überbau, Klasse, Verelendung, Entfremdung, Mystifizierung, Ideologie gingen – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt - in den bürgerlichen wissenschaftlichen Apparat ein, trotz aller gegenseitiger Polemik und unbeschadet der Tatsache, dass das Deutsche Reich ihn wegen revolutionärer Umtriebe und Vaterlandsverrat vor den Kadi zerren wollte. Seine Definition der „Moderne“ als ein fortschrittliches ökonomisches und kulturelles Durchdringen von Gesellschaften durch den Kapitalismus hat sich allgemein durchgesetzt. Marx stand in seinem Denken und seiner Arbeitsweise an der Spitze dieser Moderne. Dies sichert ihm bis heute bleibende Wirkung zu. Die vergiftende Ideologisierung von Marx setzte erst mit dem Sieg der Oktoberrevolution ein, als das Bürgertum in ihm posthum nicht nur einen intellektuellen linkskritischen Philosophen sondern einen weltbewegenden Revolutionär erkennen musste.
Die Aktualität von Marx heute
Was sagt uns Marx heute? Was kann er uns sagen als ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der noch in Newtons Welt lebte, der von der Dimensionierung des Kosmos keine Vorstellung besitzen konnte, wenig von der Urbanisierung, der Entkolonialisierung, dem technologischen Fortschritt, dem unser heutiges Wissen fehlt, das in den letzten 150 Jahren immense Fortschritte vor allem in den Naturwissenschaften gemacht hat – weniger in den Geisteswissenschaften? In zentralen Punkten seines Wissenschaftsapparates ist er aktuell geblieben, weil die Grundlagen der liberalen Ideologie und des Kapitalismus zwar geschichtlichen Modifikationen zum Neoliberalismus unterliegen, die Stufe des Imperialismus und der Globalisierung erreicht haben, aber das Kapital seinen prozessualen krisenhaften Kern und seine Widersprüche bewahrt und zugespitzt hat. Trotz einer erstaunlich dynamischen Geschichte des Liberalismus über eine lange Zeitperiode - das muss man als Linker konstatieren – ist aus dem Kapitalismus seiner Blüte ein Spätkapitalismus geworden.
Es mehren sich die Zeichen, dass es mit der monopolisierten Hegemonie des Neoliberalismus zu Ende geht, wie es der Sozialismus des XXI. Jahrhunderts Lateinamerikas ankündigt.
Und es kommt eines hinzu: Mit dem Untergang des realen Sozialismus, wird der vom Dogmatismus lange „verschüttete Marx“ wieder bloßgelegt, zeitgleich mit der Weltkrise. Es gibt keinen Philosophen und Politökonomen weltweit, der ihm als Kapitalismuskritiker das Wasser reichen kann. Sein „Kapital“ ist nach Luthers Bibel und Grimms Märchen (200-Jahr-Feier) das bekannteste Buch international in deutscher Sprache. Für die Übersetzungen ins Französische und Englische hat er selber gesorgt und damit seine Begriffe allgemeingültig in diesen Sprachen kanonisiert, aber nicht ins Spanische oder italienische. So kommt es – wie ich an anderer Stelle dargestellt habe – dass es lateinamerikanischen Marxisten Schwierigkeiten macht, z.B. das Wort „Entfremdung“ im Sinn von Marx so zu übersetzen, dass es ähnliche Kaskaden von Assoziationen auslöst wie im Deutschen. Wir Deutsche besitzen den Schatz, Marx in seiner und unserer Muttersprache lesen zu können.
Marx Einfluss in der bürgerlichen Welt heute
Mit der Befreiung Marx aus dem ideologischen Gefängnis des realen Sozialismus, verbunden mit der aktuellen Weltkrise, erleben wir eine erneute Wende nach den Hasstiraden des Kalten Krieges. Es entsteht ein kulturelles Klima, in dem einige bürgerliche Politökonomen sich zunehmend gegenüber Marx öffnen. Diesem Trend folgend, hat der Hansa-Verlag vierzehn Aufsätze von Eric Hobsbawn, einem marxistisch orientierter Philosophen, wieder publiziert, in dem der jüngst Verstorbene darlegt, wie Marx die Welt verändert hat und noch immer verändert (6). Aber schon in der Ära des Kalten Krieges fand der ökonomische Apparat von Marx Berücksichtigung im westlichen universitären Bereich. Zu nennen ist mein verehrter Lehrer an der Münchener Universität Erich Preiser oder Karlheinz Oppenländer, der frühere Ifo-Präsident, der das angebotsorientierte Wachstumsmodell von Kaldor hervorhebt, der zentrale Begriffe von Marx wie technischer Fortschritt, Kapitalkoeffizient, Profitrate in sein Modell eingearbeitet hat (7.) Diese offene Volkswirtschaftslehre wurde später in den westdeutschen Universitäten durch die Hardliner des Neoliberalismus mit wenigen Ausnahmen geschliffen. Nach Reagan und Thatcher trat der Neoliberalismus seinen Triumpf auch in Deutschland an, ohne auf nennenswerte Gegenwehr der Sozialdemokratie und Teile der Gewerkschaften zu stoßen. Mit verhängnisvollen Konsequenzen: Unter seiner geistigen Führung wurde der Staat entmachtet und die Finanzspekulation entfesselt. Als Nachfolger von Oppenländer im Ifo-Institut trat mit der Protektion der CSU-Regierung der Marktradikale Sinn an, der - unbeirrt von der Krise – weiterhin als „Marktschreier“ des Kapitalismus auftritt und seine Ware wie ein Hamburger Aalverkäufer anpreist, obwohl sein Verkaufsprodukt vom Kopf her stinkt.
Komplexe Genese des „Kapitals“: Mitten in der Arbeit wechselt er seine Methode
Die Gründlichkeit seiner Arbeit, sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen eigenen Ansprüchen bereiteten ihm viele Mühen, die ihn durch eine selbstauferlegte Disziplin in Krankheiten trieb. Burn-out würde man heute sagen. Hinzu kam, dass er als „Privatgelehrter“ ohne die feste Besoldung eines Ordinarius für das Überleben seiner Familie im Exil sorgen musste. Geldverdienen und wissenschaftliche Arbeit überforderten ihn manchmal, wenn auch die journalistische Tätigkeit für diverse Verlage und in der New-York Daily Tribune, der größten Zeitung in den USA mit über 200 tausend Lesern, ihn zwangen, zu tagespolitischen Fragen in Europa Position zu beziehen, wie bei der Brandenburgischen Akademie in ihrer III. Abteilung über den Briefwechsel Januar 1858-August 1859 nachzulesen ist. Auch wenn es Engels war, der ihm einen Teil der redaktionellen Arbeit für die USA abnahm, weitete sich jenseits der Enge seiner Gelehrtenstube sein kosmopolitischer Blick.
Die Bockigkeit und Sperrigkeit des kapitalistischen Systems, sich seine Geheimnisse entreißen zu lassen, verursachte besondere Schwierigkeiten. Im Vorwort zu den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie, Rohentwurf stellt das Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut 1939 den komplexen Ablauf der Arbeit zum „Kapital“ dar, soweit es damals bekannt war (8). Der Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts hinderte das Institut nicht, eine textkritische Edition zu wagen. Dieser „Rohentwurf“ als Vorbereitung für die späteren 3 Bände des „Kapitals“ ist kürzer, konzentrierter auf den Punkt gebracht und daher „lesbarer“ als es die Volumina der drei Bände des „Kapital“ danach sind.
In seinem Vorwort bringt der Editor eine erste Übersicht über die Arbeitsweise von Marx. In einem Brief an Ferdinand Lassalle, einem der Gründerväter der SPD, dessen „ehernes Lohngesetz“ Marx richtigerweise als unwissenschaftlich qualifizierte, stellt er sein ursprüngliches Arbeitskonzept in 6 Büchern dar (9): Vom Kapital (mit einem Vorchapter von Geld), Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, Internationaler Handel, Weltmarkt. Die Inhalte hat er während der Exzerption der ökonomischen 52 Bücher schon im Kopf, einiges war schon veröffentlicht, jetzt sollte es in Form von offensichtlich separat gegliederten Themendisziplinen ausgefüllt werden. Der Plan der Darstellung war ein gigantisches Projekt, zu dem es bisher an Vorarbeiten anderer gefehlt hat. Dessen war er sich zwar bewusst, zog aber nicht die mögliche Konsequenz eines rationaleren Umgang mit der zur Verfügung stehenden Zeit.
An erschwerenden Arbeitsbedingungen kam hinzu, dass die Einarbeitung in die unbekannte Materie und die dabei gewonnenen vorläufigen Ergebnisse ihm nicht vorhersehbare Aspekte eröffnete, so dass er das ursprüngliche Konzept verwirft, die sechs Büchern auf drei reduziert und nach diesem neuen Schema unter dem Begriff „Kapital“ weiter arbeitet. Die Pferde mitten im Strom zu wechseln, ist eine riskante Angelegenheit, andererseits hätte bei einem Festhalten an dem ursprünglichen Plan die Gefahr einer Separierung in verschiedene Disziplinen bestanden. Die Zusammenfassung unterschiedlicher Disziplinen unter dem Totalbegriff „Kapital“ kommt der aktuell-modernen interdisziplinären Arbeit im heutigen Wissenschafts-Betrieb nahe. Auch hier erweist sich seine Modernität.
Briefe als selbstkritische Augenblicksmomente von Marx Schaffen
Unklar ist, ob Marx sich zu jeder Zeit seines eigenen Denkprozesses bewusst war, ob er also aus sich selber heraus trat, sich von außen betrachtete, um eine permanente selbstkritische Position zu seinen Denkschritten einzunehmen. Hegel hatte dazu den dialektischen Erkenntnisprozess geliefert, dass aus dem Anderssein die eigene Identität erkenntlich wird. Marx Fehleinschätzungen über die zu leistenden Volumina seines Opus geben Zweifel, seine Briefe an Engels, Lassalle, Kugelmann legen dies hingegen nahe. Eine Leistung des Kapitalismus war die erhebliche Verbesserung des Informationsaustauschs über ozeanweite Kabel und eine leistungsfähige Post des Vereinigten Königreiches wie die Reichspost, eines der wenigen reichsweiten Institutionen über die föderale Struktur des neugegründeten Reiches hinaus. Die Briefe – soweit sie erfasst und erhalten geblieben sind - dienten natürlich der Kommunikation, des Vergewisserns der Reaktionen bei anderen über die Richtigkeit seines Weges sowie der Aufnahme neuer Anregungen. Sie geben aber auch in ihrem Duktus unverfälscht den spontanen, intuitiven Fluss seiner Gedanken wieder, noch nicht gezügelt durch perfektionierende Korrekturen im Hinblick auf ein zukünftiges Leserpublikum.
Da er in einer englischen Alltagswelt lebte, seine Materialaufnahme im Wesentlichen englisch war, er aber die deutsche Sprache oft nicht missen wollte, fließen in seine Satzsentenzen knappe englische Brocken aus der Umgangssprache ein …you like….vorchapters…after all,.. my own…never mind, aus denen zu entnehmen ist, dass er sich bei den persönlich gehaltenen Briefen aus der üblichen strengen Sprachzucht heraus nahm. In diesen Briefen reflektiert er auch seine Pläne, beklagt sich über die oft unerträgliche Arbeitslast, über seine Krankheiten. Erst sie geben einen unverfälschten Eindruck von ihm selbst.
Ein großes Gesamtwerk und doch unvollkommen
Es zählt zu den Merkwürdigkeiten in seiner Vita, dass er den Rohentwurf der Grundrisse zwar zur Publizität freigab, von den drei Bände des „Kapitals“ aber, die er aus dem Rohentwurf „gezimmert hatte“, nur den 1. Band selber komplett fertig stellte und zur Publikation freigab. Die anderen zwei Bände – obwohl schon das meiste erarbeitet war – ließ er 15 Jahre bis zu seinem Tode unpubliziert liegen, als ob er ihrer überdrüssig geworden wäre. Wo blieb seine Selbstverantwortung für sein epochales Werk? Nach seinem Tod musste Friedrich Engels daran gehen, die überlieferten Manuskripte nach ihren Inhalten zu ordnen, was angesichts der nicht linearen Genese kein leichtes Spiel war. Im Vorwort zum 3. Band über den Gesamtprozess der Kapitalistischen Produktion beklagt sich Engels wortreich über den Verhau, den sein toter Freund ihm überlassen hatte (10). Dies betraf „besonders den Abschnitt V. für den kein fertiger Entwurf vorlag, nicht einmal ein Schema, dessen Umrisse auszufüllen wären, sondern nur ein Ansatz von Ausarbeitung, der mehr als einmal in einen ungeordneten Haufen von Notizen, Bemerkungen, Materialien in Auszugsform ausläuft. ..Mir blieb nichts übrig, als die Sache in gewisser Beziehung übers Knie zu brechen, mich auf möglichste Ordnung des Vorhandenen zu beschränken, nur die notdürftigsten Ergänzungen zu machen“.
Das war 1893, lange nach dem Tod von Marx. Die Entschuldigung, dass seine Krankheitsschübe Unordnung in ein großes Werk brachte, ist nicht schlüssig. In den 15 Jahren nach dem Abbruch der Arbeiten war Marx nicht ständig krank. Er befasste sich vornehmlich mit vormarktwirtschaftlichen Formen der Ökonomie. Stedman Jones spekuliert, dass Marx „in eine Falle gelaufen sei, den Kapitalismus durch eine vormarktwirtschaftliche Form zu ersetzen“, also ein Rückfall aus der Moderne in die Vormoderne, eine unhaltbare Position, die er erkannt hätte. Sein Schwiegervater Lafargue hingegen berichtet, dass die selbstverpflichteten ökonomischen Studien am „Kapital“ bei ihm zunehmend unbeliebt wurden, und er viel lieber eine Logik und eine Geschichte der Philosophie geschrieben hätte (11).
So kommt es, dass das zweiundfünfzigste Kapitel über die Klassen, nach 942 Seiten des dritten Bandes, folgendermaßen endet: „Dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztre z. B. in Weinbergsbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet“. Darauf der Kommentar des Bearbeiters Friedrich Engels: „Hier bricht das Manuskript ab. (F. E.)“.
Gut, dass Marx sich anderswo ausführlich über die Klassen geäußert hat, die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Klassenkämpfe….
Die philologische Aufwertung von Marx Werk durch Engels
Das Schlusswort von Engels zum dritten Band lässt uns zu der anfänglichen Frage zurückkommen, wie aus einem unvollständigen Werk gültige Schlussfolgerungen gezogen werden können. Den puristischen Usancen der damaligen wissenschaftlichen Welt entsprach es, dass nur die vom Autoren autorisierten, signierten und publizierten Bücher ihm zuzuschreiben seien. Aber nicht nur bei der wissenschaftlichen Exegese der Texte, die noch nicht abgeschlossen ist, muss von folgendem ausgegangen werden: Aus der Genese der Werke von Marx ergibt sich, dass alle „Produkte“ von Marx, die „per manus“, durch seine Hand gegangen sind – Exzerpte, Vorentwürfe, Entwürfe, Briefe, Manuskripte, nicht zu vergessen die Randnotizen auf den von ihm zusammengestellte Materialien - dass dies alles gleichberechtigte, relevante Teile seines Gesamtwerkes sind. Dies gilt auch für die gemeinsamen Publikationen mit Engels und dessen Füllen von Lücken, wenn Engels seinen eigenen textlichen Beitrag „im Geiste von Marx“ verdeutlichend markiert hat. Die Sozialisten der Welt, einschließlich Marx selbst können sich glücklich schätzen, in Friedrich Engels einen Menschen zu haben, der von Marx Arbeit vieles „gerettet“ hat, was vielleicht nach seinem Tod der Menschheit verloren gegangen wäre. Eine nicht allzu ferne Analogie zu Franz Kafka drängt sich auf, dessen Freund Max Brod vieles für die Nachwelt gerettet hat. Deshalb ist die einheitliche Aufarbeitung der Arbeiten von Marx und Engels in der Gesamtausgabe berechtigt.
Marx lesen vor selbsternannten „Marxisten“
Wie steht es aber mit der Bewertung der selbsternannten „Marxisten“? Angesichts des gigantischen Volumens, das Marx hinterlassen hat, der komplexen Kompliziertheit seiner Arbeiten, die der Komplexität des kapitalistischen Untersuchungsobjekts entsprach und der auch dadurch gegebenen Unübersichtlichkeit seiner Arbeiten – Eric Hobsbawn spricht gar von verwirrend und unklar - lagen verkürzende Verdeutlichungen oder „Popularisierungen“ in „Volksausgaben“ (DDR-Publikationen), auf der Hand, aber mit problematischen Konsequenzen. Ein breiter Strom von selbstproklamierten Nachfolgern in seinem Geist, von Epigonen, Interpreten, „schöpferischen Anwendern“, Scharlatanen zieht sich hinter seinem Werk. In wichtigen Momenten der Geschichte wurde aus dem marxistischen Strom ein Rattenschwanz. Und dies nicht nur in der Zeit Stalins.
Ein Beispiel für den weitverbreiteten intellektuellen Verrat an Marx bildete das nachstalinistische „Lehrbuch der Grundlagen der marxistischen Philosophie, in der 2. Ausgabe in der DDR als russischer Nachdruck von 1964 (12). Unter Berufung auf die „Weltanschauung“ von Marx – als gäbe es bei ihm eine geschlossene Schau der Welt - heisst es dort: „Der dialektische Materialismus ist die einzige Philosophie, die sich auf das feste Fundamt der gesamten modernen Wissenschaft stützt (S. 25). Auf der Grundlage dieser „festen Stütze“ erfolgt ein Rundumschlag gegen Karl Jaspers, der …“das Vertrauen zu den Kräften der menschlichen Vernunft untergräbt“. Gegen die Psychologie des Subjekts von Albert Camus wird Front gemacht. Ein möglicher Dialog mit verschiedenen europäischen Geistesströmungen wird als „Eklektizismus“ verschrien. „Als Eklektizismus bezeichnet man die mechanische, prinzipienlose Verbindung verschiedener geistiger Richtungen“. Das kann im Einzelfall schon sein, aber darum geht es dem „Lehrbuch“ gar nicht. Es geht darum, die eigene Unfähigkeit zum Dialog mit anderen Denkrichtungen - westlichen oder maoistischen - zu dogmatisieren.
Der englische Philosoph Bertrand Russell versuche, „die Grundfrage der Weltanschauung zu umgehen“ (S. 22), aus gutem Grund, war doch die „marxistische Weltanschauung“ in ihrem Totalitätsanspruch zu einem Dogma erstarrt. Ein marxistischer Säulenheiliger ist bis heute bei einigen Georg Lukács, der zwischen Nietzsche und Hitler eine lineare Kausalkette zieht, ohne vorher eine kritische Exegese von Nietzsches Werk zu leisten, z.B. die Verfälschungen seiner Gedankenwelt durch seine Schwester mit zu berücksichtigen. Der letzte Satz dieses Machwerkes lautet (S. 730): Das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion begründete für die gesamte Menschheit wissenschaftlich den Weg in die Zukunft. Diese Zukunft ist der Kommunismus“.
Marxistische Originale, schöpferische Anwender oder Meister von Samples, Kopieren, Plagiieren und Weglassen
„Marxisten“ kann man nicht über einen Kamm scheren. Lenin fällt – wegen seiner überragenden Einheit von seiner Theorie und seiner revolutionären Praxis - aus dem Schema von „Marxisten“ heraus und hat neben Marx und Engels eine eigene „Statur“ im sozialistischen Olymp, auch wenn vielerorts seine Statue gestürzt worden ist. Rosa Luxemburg ist eine hervorragende Anwenderin marxistischer Theorie, verbunden mit der Demokratie, Bebel und Wilhelm Liebknecht sind sozialistische Praktiker im Kaiserreich. Es sei der Urteilsschärfe eines jeden überlassen, welche kritische Position er zu seinem Lesestoff einnimmt – kritisch sollte sein Urteil sein und den Mantel des eigenen Denkens nicht an der Garderobe vorgefasster Positionen abgeben. Auch könnte es nicht schlecht sein, aus dem heutigen Zeitgeist der bürgerlichen philosophischen Rhythmen Ideenfetzen zu sampeln, die den sozialistischen Kanon bereichern könnten, in die Richtung, dass Marx-fremde Produktionen kreativ für einen offenen, analytischen Marxismus verwendet werden.
Bloße Kopien sollten dem Copyright des Originals unterliegen und Plagiatoren, die Marx unter ihren Namen verwenden, sollten zur Seite gelegt werden. Der Ideen-Klau mit copy und paste sollte ohne Angabe des Originals vermieden werden. Als problematisch sind die zu bewerten, die sich wie die Linkspartei sozialistisch nennen, aber in ihrem Programm Kernbereiche wie die kommunistische Utopie weglassen. Sicherlich, ob diese Utopie jemals eine Chance haben wird, ist ungewiss. Aber in der Postmoderne finden die am ehesten Gehör, die für die große - und wenn man so will - emotlionalen Phantasien ihrer Zeit eintreten, zumindest in Westdeutschland. Als Erinnerungsposten sollten die Weglasser zumindest in ihrer Bibliothek das Kommunistische Manifest für zukünftige Zeiten aufbewahren. Ideologische Verengung von Ideen-Räumen ist von Übel. So viel sollte man aus der jüngeren Geschichte gelernt haben.
Dogmatische Züge bei Marx werden durch geschichtliche Abläufe korrigiert
Jede Abschottung gegen andere Geistesströmungen ist gegen die Arbeitsweise von Marx gerichtet, der in der europäischen, philosophischen Tradition der Aufklärung stand und der seine Wissenschaftlichkeit in der dialektischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Geistesströmungen suchte. Allerdings mit der theoretischen Bewältigung der selbstgestellten Aufgabe, die Gesetze des Kapitalismus enthüllt zu haben und somit die ökonomischen Bedingungen zur Selbstverwirklichung der Menschen erkannt zu haben, trat er in einer „aristokratischen Überlegenheit“(13) gegenüber anderen Menschen auf, die dieses Gehabe als überheblich empfanden. Geleitet von seinem überwältigenden Wissen sprach er in imperativen, keinen Widerstand duldenden Worten.
Aus seinen historischen Studien und konkreten Erfahrungen musste er aber wissen, dass die geschichtlichen Abläufe nicht quasi automatisch in seinem Sinne liefen. Die 48-Ereignisse oder die erste weltweite Finanzkrise Mitte des 19. Jahrhundert mündeten nicht in die Revolution, wie er anfänglich erwartet hatte. Bei dem ersten proletarischen Aufstand in der modernen Geschichte, der Pariser Kommune, die nur einige wenige Monate dauerte, bevor sie niederkardätscht wurde, musste er sich mit der Rolle eines außenstehenden Zuschauers und Kommentators begnügen. Wenn die Massen selber die Sachen in die Hand nahmen, konnten Politikökonomen schwerlich eingreifen. Lenin war ein größerer Revolutionspraktiker. Ihm kam seine Zeit eines krisengeschütteten Russland entgegen, das mit dem sich industrialisierenden Kaiserreich Bismarcks nicht vergleichbar war. Marx hielt zwar die Ideale der Einheit von Theorie und Praxis hoch, musste aber Niederlagen in der Praxis einstecken.
Die intensive Beschäftigung mit geschichtlichen Abläufen musste ihn Vorsicht lehren. Die Enthüllung der kapitalistischen Gesetze beschränkt sich auf ihr inneres Gefüge, auf ihre Funktionsweise, sie weist nicht auf die konkrete Richtung, die Geschichte einschlägt. Der tendenzielle Fall der Profitrate z.B. eröffnet zwar die Möglichkeit einer Fundamentalkrise des Kapitalismus, wann aber diese eintritt und unter welchen konkreten Bedingungen ist damit nicht entschieden. Wer glaubte, die geschichtlichen Abläufe auf seiner Seite zu haben, sah sich oft getäuscht. Die materialistische Geschichtsauffassung bot zwar wissenschaftliche Maßstäbe an, mit denen man ihre Gültigkeit an abgeschlossenen Abläufen erproben konnte. Das zukünftige Geschehen hängt aber von zu vielen neuen – vorher noch nicht erprobten - Imponderabilien ab, als dass schlüssige Prognosen möglich wären. Daran scheitern alle deterministischen Geschichtsmodelle. Dem steht nicht entgegen, dass in historischen Fällen marxistische Führer – Lenin, Mao, Ho Chi Minh - Geschichte bestimmen können.
Endzeitperspektiven der kommunistischen Utopie, die eine hohe Emotionalität evozieren, sind theoretische Konstrukte, die sich aus Marx` Kapitalismuskritik logisch ergeben. Ob die Menschheitsgeschichte diesen Weg einschlägt, steht in den Sternen, von denen Hegel in einem Gespräch mit Heinrich Heine sagte, sie seien ein „reiner Aussatz des Himmels“, nicht bedenkend, dass wir Menschen aus diesem Sternenstaub bestehen (14).
Die neu gewonnene Bedeutung von Marx in der Weltkrise
Der Neoliberalismus, der von der Beherrschbarkeit einer Ökonomie im Gleichgewicht ausging, ist von der realen Geschichte und durch Marx Werk widerlegt worden. Die aktuelle Weltkrise ist die geschichtliche Bestätigung dessen. Dass dies noch kein Allgemeingut ist, sei der menschlichen Trägheit anzulasten. Die Indizien sind eindeutig: Das Krisenmanagement auf der Basis des Kapitalismus gerät von einer Blamage in die andere. Umso erwartungsvoller richten sich die Blicke auf Marx, war er doch der Fundamentalkritiker des Kapitalismus, der die Krise als sein Wesenselement analysiert hatte.
Nach Marx ist die Finanzkrise (Euro-Krise) ein Teil der Gesamtkrise des Kapitals. In seinem Zirkulationsmodell ist „Geld“ ein Glied in der Kette der Metamorphosen von Arbeit - Kapital- Ware – Wert – Mehrwert. Daraus folgt, dass Rettungs-Maßnahmen, die isoliert auf die Finanzen-, Schulden- Bankenwelt angesetzt sind, wenig bringen werden. Diese Erkenntnis greift immer mehr auch in der bürgerlichen Welt um sich, einschließlich Merkel. In deren Worten: Ohne eine Rekonstruktion der realen Güterwelt, der Steigerung der Produktivität, des Wettbewerbs auf den Weltmärkten, werden nicht die Exporterlöse erzielt werden können, mit denen ein Schuldenabbau und Kreditrückzahlung dauerhaft erfolgen kann. Weitere Einschnitte ins Soziale kappen nur weiter die Kaufkraft und vertiefen die Krise. Eine Industrialisierung ist aber in Griechenland – wie in Spanien, Portugal – in absehbarer Zeit nicht möglich. No solution possible.
Und was würde Marx sagen? Er würde auf seine Arbeitswertlehre verweisen: Austauschwerte von Gütern und Dienstleistungen über äquivalente Arbeitsstundenbilanzen ohne Geld, also Abschaffung des Geldes durch eine Art Barter-Geschäft. Kein Geld – keine Finanzkrise – die fundamentale Lösung. Dies habe ich an anderer Stelle in „Scharf-Links“ dargestellt. Aber wenn ein deutsch-mexikanischer Marxist wie Heinz Dieterich, der zeitweise als Berater bei Chavez und Castro diente, solche Vorschläge unterbreitet, stößt er sofort auf die harte Realität eines nach Geldgesichtspunkten organisierten Globalismus, den auch sozialistische Länder wie Venezuela und Kuba zu berücksichtigen haben.
Marx könnte mithelfen, die kapitalistische Theatralisierung des Politischen zu beenden
Der Kapitalismus hat sich den Staat untergeordnet. Das Skandalöse der mafiosen Finanzkapitale schlägt eine Kapriole nach der anderen. „Systemrelevante“ Banken erpressen den Staat und lassen sich durch die Steuerzahler retten. Und dennoch verlaufen die Reaktionen gedämpft ab, weil Staat und Gesellschaft in Deutschland im Drogenrausch einer exportorientierten Sonderkonjunktur steht. Ein Bewusstsein, dass es sich nicht um eine der bisher üblichen Konjunktur- sondern Systemkrise des Kapitalismus handelt, fehlt bisher in der bürgerlichen Gesellschaft und Politik. Man geht von der Illusion aus, dass Lösungsansätze innerhalb des Systems zu finden seien. Diese Beharrlichkeit ist nicht nur ein ökonomisches, es ist ein kulturelles Phänomen. Marx hat schon vor 150 Jahren in einer „normativen Aufklärungsarbeit (Jürgen Habermas) die Innereien des Kapitalismus seziert. Er hat den Kapitalisten und ihren Helfershelfern den Spiegel vorgehalten und ihnen ihre Schuldlosigkeit genommen, aber sie beharren – mit Zustimmung vieler - immer noch darauf. Der kritische Moralist Peter Handke sagt zu seinem siebzigsten Geburtstag: Die Unschuldigen sind heutzutage die schlimmsten, die richten das größte Unheil an. Zu Shakespears Zeiten wussten die Bösewichter wenigstens, dass sie schuldig sind (15). Die Traditionen von zweihundert Jahren Liberalismus halten viele gefangen. Marx Erbe ist fast genau so alt. Er war und ist der wichtigste Antipode gegen die Kapitalisten, der ihnen ihre Unschuld nehmen kann. Im antiimperialistischen Kampf bietet Marx die Inhalte, mit denen der aktive Kampf mit Protesten, Demos, direkte Aktionen geführt werden kann. Man muss ihn wieder lesen, phasenweise, nicht permanent, um nicht an der trockenen Ökonomie die Lust zu verlieren. Und er hat uns Überraschendes zu sagen. Zum Beispiel wie es um die Ethik steht und die Deutsche Bank.
Unsterbliche Deutsche Bank und die Metaphysik des Kapitals
„36 Banken sind unsterblich“, titelt die Süddeutsche Zeitung am 18. Dezember 2012. Am unsterblichsten dürfte die Deutsche Bank sein. Hitler konnte in seinem III. Reich der Deutschen Bank, die in den eroberten Gebieten hinter der Wehrmacht eifrig Filialen errichtete, nur eine Lebensgarantie von tausend Jahren geben. Das kapitalistische Welttheater will systemrelevanten Banken eine dauerhafte Lebensversicherung bieten. Systemrelevante können damit rechnen, dass sie vom Steuerzahler aus Krisen heraus geboxt werden können. Geht es doch um das System. Ohne Deutsche Bank kein deutscher Kapitalismus.
Gehen wir das Thema „unsterblich“ philosophisch an. Nach Kant zählt der Begriff „unsterblich“ zur transzentralen Dialektik im Rahmen der Metaphysik, die zwar in der Natur der Vernunft liegt, aber in der realen als Schein zu bewerten ist (Wikipedia). Unsterblichkeit hat nur in der Religion ihre Gültigkeit. Die Bankenaufsicht Bafin und Finanzminister Schäuble, die die Garantie für das Überleben der relevanten Banken und damit des Kapitalismus geben, handeln metaphysisch.
Aber es geht schon gar nicht mehr um Schein oder Sein. Während man den systemrelevanten Banken ihr Überleben garantiert, will die Europäische Union sie zugleich zu Testamenten zwingen, um im Fall ihres Ablebens ein rasches Abwicklungsverfahren in der Hand zu haben. Was denn nun? Existenzsicherung oder Testament? Man muss sich ernsthaft um den Geisteszustand der Vertreter des Spätkapitalismus Sorgen machen. Marx ging noch von Vernunftstrukturen im Rahmen des Irrationalen aus, das im Totalen des Systems eingefasst war. Heute drängt sich das irrationale Ganze nach vorn. Die Ohnmacht der Protagonisten ist die Folge, und ihre Angst eliminiert einen Rest von Vernunft. In einem haben die Vertreter aber das Niveau von Marx erreicht: mit ihrem Begriff der Systemrelevanz. Stürzen die Banken, stürzt das Kapital.
Marx: Gier nach Profitmaximierung Lebenselexier des Kapitals
Um so lächerlicher ist die Opposition zu beurteilen. In demagogischer Berlusconi-Manier wollen Peer Steinbrück und Jürgen Trittin die bösen Finanzjongleure gemeinsam zum Schwerpunkt ihres Bundestagswahlkampfes machen, weil die Frau Merkel durch Nichtstun den Gerechtigkeitssinn der Bürger verletze. Vom Sozialdemokraten Steinbrück, dem Mann ohne Herz (Bild-Zeitung) und vom Kapital Honorierten, kann man nichts anderes erwarten. Dass Trittin dabei ist, verwundert jedoch, müsste er als altes Mitglied des Kommunistischen Bundes (KB) wissen, dass Wetten zum kapitalistischen Geschäft zählen und Bankchefs Chraktermasken des Kapitals sind.
Die Gier der Banker und Hedgefondsverwalter wird vom Primat der Profitmaximierung gesteuert. Gier ist ein konstituierendes Element des Kapitalismus, sein Lebenselixier. Je riskanter die Wetten desto höher das Profitversprechen – falls es gut geht. Die Finanzspekulanten würden pflichtvergessend handeln, falls sie ihre Chancen nicht nutzen. Nicht die Wettgeschäfte als solche sind ein Ärgernis. Laufen sie gut, reiben sich die Vorstände die Hände, vielleicht stocken die Banken ihr Eigenkapital auf und sichern auf diese Weise die Arbeitsplätze. Spekulationen können also nach der kapitalistischen Logik Arbeitsplätze sichern, das sei den beiden deutschen populistischen Berlusconi-Jüngern gesagt. Das Ärgernis liegt in den Fehlgeschäften, was Wetten so an sich haben sollen.
Deshalb haben die Geldhändler Recht, wenn sie die Aufregung in der Öffentlichkeit und bei Politikern nicht verstehen können. Sie tun ihr Bestes. Ein Unrechtsbewusstsein fehlt ihnen berechtigterweise. Wenn Handke zu seinem Urteil kommt, die Unschuldigen seien die Bösewichter, urteilt er vielleicht aus einer naiven Position heraus. Marx kann er nicht zu seinem Zeugen machen.
Staatliche Pose gegen unschuldige Kapitalisten
Die Justiz erfüllt ihre Pflicht oder sie versucht es. Der Staat tut so, als wolle er einen Teil seiner an das Privatkapital abgegebene Macht zurückgewinnen. Gegen die letzten drei Vorsitzenden der größten Bank der Welt, die Deutsche, gegen Breuer, Ackermann und den amtierenden Fitschen laufen Ermittlungsverfahren. Der unschuldige Fitschen interveniert beim hessischen Ministerpräsidenten gegen den „ungeheuren Überfall“ von 500 Polizisten auf seine Bank, in dem er eine „Rufschädigung“ sieht. Die Politiker wiederum empören sich über die versuchte Behinderung der Staatsanwaltschaft. Wann hat es das schon mal gegeben, dass sich die Staatsanwaltschaft die Creme de la Creme des Finanzkapitals herannimmt? Es kommt zu dramatischen Szenen in Frankfurt. Fitschen versammelt während der Untersuchungsaktion im Zentralgebäude 3000 Angestellte, um zu trösten. Viele haben Tränen in den Augen. Aber keine Sorge. Die Ermittlungen werden nicht zum Sturz der Chefs führen.
Aus der Sicht von Marx wären die aktuellen Aufregungen über angeblich kriminelle Aktionen „Peanuts“ gegen das „normale“ Bankgeschäft: Die Orientierung an die Profitrate von 25 Prozent, die Ackermann durch Massenentlassungen und durch Londoner Finanzgeschäfte angepeilt hat. Die bankeninternen Boni-Zahlungen, um den Kunden Immobilienschrott anzudrehen. Die Kreditklemme, die Millionen von Arbeitsplätzen gefährdet.
Durch Posen, die nicht den Kern berühren, will die Politik das gestörte Rechtsempfinden wieder herstellen. Die Deutsche Bank gelobt aufgrund des Drucks von außen einen „Kulturwandel“, nicht aus innerer Einsicht, weil man an seiner Unschuld festhält. „Doch bei allen Bekenntnissen zum Wandel ist eines geblieben: das gnadenlose Streben nach Bestleistungen“ (16). Das Ziel der neuen Doppelspitze der Deutschen Bank von 12 Prozent, ist kaum weniger profitgeil als Ackermanns 25 Prozent, wie die SZ feststellt: „Denn umgerechnet kommt man auch hier auf einen Wert, der nur knapp unter Ackermanns Latte liegt.
Deutschlands Rechtssystem auf dem Niveau von Chicago zu Zeiten von Al Capone
Karl Marx hat als Student von Friedrich Carl von Savigny´s historischen Rechtsschule gelernt, dass Systeme ihre jeweilige historische Prägung haben – es also kein absolutes Recht über die Menschheitsepochen hinweg gibt - und dass zwischen der Form und dem Inhalt zu unterscheiden ist. Auf diese neue Gewichtung in der Interpretation von Marx´ Biographie legen angelsächsische Historiker Wert.
Der Staat in der Vertretung von Staatsanwälten will das Kapital als Ganzes durch ein paar Korrekturen retten. Dafür sollen ein paar Köpfe der oberen, mittleren und unteren Etagen rollen. Aber die Kapitalseite bleibt uneinsichtig. Aus der Sicht ihrer Unschuld verständlich. Sie rüstet mit einem Schirm von Rechtsanwälten auf. In ihrem kernigen spekulativen Profitgeschäft ist sie durch die Justiz kaum angreifbar, wenn es an Vorsatz, grober Fahrlässigkeit und kriminellem Bewusstsein fehlt. Die ganze Wucht des Strafgesetzbuches, mit dem jeder kleiner Ladendieb behelligt wird, bleibt zumeist in der Schublade. Die Justiz muss das Aktienrecht heranziehen. Dort geht es schließlich um Verletzungen innerhalb der Kapitalistenklasse, und in dem Punkt hört der Spaß auf.
Warum kommt die Erinnerung an die Zeiten während der Prohibition in Chicago auf? Heute geht es nicht um Mord. Aber in einem gleicht sich die Szene. Al Capone konnte man unter dem Schirm seiner Rechtsanwälte nicht wegen hundertfachen Mordes behelligen. Es musste das Steuerrecht heran gezogen werden, um ihn für ein paar Jahre ins Kittchen zu bringen.
Vor kurzem ist der Chefkommentator des deutschen Aktienrechts gestorben. Er war Professor einer Institution, die einstmals als „Arbeiteruniversität“ gegründet worden war. Der Mann war ein geachteter Mann in der Gesellschaft. Seine Professur zeichnete ihn als Kenner der Materie bis in die kleinsten Winkel des Aktienrechts aus. Er war der geeignete Gutachter für den Verteidiger des Chefs der Deutschen Bank Ackermann 2003, um dessen verwundbare Flanke im Aktiengesetz zu schützen, dort wo es innerhalb der Kapitalklasse um das Ganze geht wie Verletzungen der Rechte von Hauptversammlungen und Aktionären durch Vorstände oder „Veruntreuung“ von Vermögen. Das in der Rechtsprechung bis heute gültige Ergebnis des Gutachters: Fehlen Verletzungen nach dem Aktienrecht, kann das Strafrecht nicht herangezogen werden. Die für Ackermann erfolgreiche Argumentation des professoralen Gutachters: „Maßnahmen, die mit aktienrechtlichen Bestimmungen übereinstimmen, können unter keinen Umständen strafbar sein. Nicht jede unternehmerische Entscheidung kann unter die Sanktionen des Strafrechts gestellt werden. Das Strafrecht kann lediglich als „ultima ratio“ bei massiven Rechtsverletzungen eingesetzt werden“ (17). Ehrenwerte Männer in einer ehrenwerten Gesellschaft. Oder doch nicht? Für Marx ging es nie um bürgerliche Moral oder Unmoral oder um geltendes Recht. Manche sagen, er sei amoralisch gewesen. Das ist ein Missverständnis. Ihm ging es darum, das System revolutionär zu ändern. Darin zeigte sich seine Ethik als realer Humanist.
1. Homepage der Berlin-Brandenburgischen Akademie
2. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital“, Nördlingen. 1968
3. Gereth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, Einführung, Text, Kommentar, München 2012
4. Franz J. Hinkelammert, El sujeto y la ley, La Habana, 2006, S. 81 ff
5. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913, S. 19 ff
6. Eric Hobsbawn, Wie man die Welt verändert, München 2012
7. Karlheinz Oppenländer; Die moderne Wachstumstheorie, Berlin-München 1963
8. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, (Rohentwurf), Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau, Berlin (Ost) 1953
9. Marx an Lassalle, den 22. II. 1858 (Lassalle-Nachlass, S. 116/117)
10. Karl Marx, Das Kapital, Buch III, Berlin (Ost), 1959
11. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart, 1955, Einleitung
12. Grundlagen der marxistischen Philosophie, nach der zweiten überarbeiteten und ergänzten russischen Ausgabe, Berlin (Ost), 1965
13. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Einleitung, S. XLVI
14. Laudatio von Alexander Kluge auf Jürgen Habermas bei der Verleihung des Heine Preises 2012 im September in München.
15. Peter Handke im Interview mit Cristine Dössel, SZ 6. Dezember 2012
16. SZ 19. Dezember 2012
17. Handelsblatt 19. 09. 2003
2. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital“, Nördlingen. 1968
3. Gereth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, Einführung, Text, Kommentar, München 2012
4. Franz J. Hinkelammert, El sujeto y la ley, La Habana, 2006, S. 81 ff
5. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913, S. 19 ff
6. Eric Hobsbawn, Wie man die Welt verändert, München 2012
7. Karlheinz Oppenländer; Die moderne Wachstumstheorie, Berlin-München 1963
8. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, (Rohentwurf), Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau, Berlin (Ost) 1953
9. Marx an Lassalle, den 22. II. 1858 (Lassalle-Nachlass, S. 116/117)
10. Karl Marx, Das Kapital, Buch III, Berlin (Ost), 1959
11. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart, 1955, Einleitung
12. Grundlagen der marxistischen Philosophie, nach der zweiten überarbeiteten und ergänzten russischen Ausgabe, Berlin (Ost), 1965
13. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Einleitung, S. XLVI
14. Laudatio von Alexander Kluge auf Jürgen Habermas bei der Verleihung des Heine Preises 2012 im September in München.
15. Peter Handke im Interview mit Cristine Dössel, SZ 6. Dezember 2012
16. SZ 19. Dezember 2012
17. Handelsblatt 19. 09. 2003
Gerd Elvers
27. Dezember 2012, Oberhausen
27. Dezember 2012, Oberhausen