Wednesday, 29 September 2010
Engels hat fast jede Seite verändert (MEGA-website)
Engels hat fast jede Seite verändert
Der zweite und dritte Band des „Kapital" bereiten den Forschern Kopfzerbrechen: Was ist davon noch ein Original-Marx?
VON HEIKO SCHWARZBURGER
Die wichtigsten Bücher der Menschheit sind von Geheimnissen umwoben. So ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ob Moses tatsächlich der Autor der nach ihm benannten fünf Bücher des Alten Testaments war. Auch Karl Marx wurde und wird von einigen als Prophet verehrt. Die handschriftlichen Manuskripte zum „Kapital", dessen drei Bände über 27 Jahre verteilt erschienen, stammen zwar zweifellos von ihm. Doch könnte es sein, daß es sich bei den gedruckten Ausgaben des zweiten und dritten Bandes nicht um Marx pur handelt. Der Philosoph konnte nur den ersten Band im Jahre 1867 selbst herausgeben, er starb 1883. Da niemand außer Friedrich Engels die Handschrift des Autors entziffern konnte, sichtete der langjährige Freund die riesige Manuskriptsammlung. Selbst hochbetagt, stellte er die Vorlagen von Karl Marx zu einem druckreifen Werk zusammen. Der zweite Band erschien 1885, neun Jahre später folgte der dritte.
Inwieweit hat Engels dabei die Ideen seines Freundes verändert? Für die Editoren der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften steckt diese Frage voller Brisanz. Derzeit bemühen sich Forscher aus Deutschland, Rußland, Japan, Frankreich und den Niederlanden um die möglichst originalgetreue Ausgabe des zweiten Bandes des „Kapital". Ihre Untersuchungen in den Archiven von Moskau und Amsterdam brachten Erstaunliches zutage: „Marx hat nie ein fertiges Manuskript für den zweiten Band vorgelegt", berichtete Carl Erich Vollgraf von der Akademie auf einer Fachtagung.
In akribischer Kleinarbeit haben die Editoren die Veränderungen zu den Originalmanuskripten analysiert. „Wir konnten die Texte von Karl Marx soweit erfassen und entziffern, daß wir mit Bestimmtheit sagen können, daß Engels auf jeder Seite mindestens eine bedeutende Änderung vorgenommen hat", sagte Ljudmila Vasina vom Moskauer Zentrum fur zeitgeschichtliche Dokumentation.
Hinter der detektivischen Archivarbeit steckt eine Generaldebatte um die Authentizität des zweiten Bandes des Kapital. Bislang galt die Druckfassung von 1885 unbestritten als Marxsches Original. In den letzten Jahren vor seinem Tod hatten Marx und Engels aber ein schwieriges Verhältnis. Engels sah, daß die Veröffentlichung des Riesenwerkes zum Wettlauf mit der Zeit geriet. Oft drängte er Marx, die Arbeiten zum zweiten Band schneller zu beenden. Zunehmend durch Krankheiten ans Bett gefesselt, entzog sich Marx diesem Druck seines Herausgebers, indem er sich über den Stand der Vorarbeiten ausschwieg. Engels schrieb später im Vorwort zum zweiten Band des „Kapital": "lch habe mich damit begnügt, die Manuskripte so wörtlich wie möglich wiederzugeben, nur da erläuternde Zwischensätze und Ubergänge einzuschieben, wo dies absolut nötig und der Sinn obendrein ganz unzweifelhaft war. Die von mir herrührenden Umarbeitungen und Einschiebungen betragen im ganzen noch keine zehn Druckseiten und sind nur formeller Natur."
Die Manuskripte, die Engels verwendete, stammen aus den Jahren 1867 bis 1880. Er schrieb 37 Seiten ab, dann wurden seine Augen so schlecht, daß er die Texte seinem Sekretär Oskar Eisengarten diktierte. „Engels benutzte die Marxschen Vorlagen, ohne über die Absichten von Marx vor seinem Tode im Bilde zu sein", resümierte Carl-Erich Vollgraf. Marx legte zu verschiedenen Themen oft mehrere Manuskripte an, aus unterschiedlichen Stadien seiner wissenschafflichen Arbeit. Engels verwendete stets das letztdatierte. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Marx dieselbe Fassung gewählt hätte.
Erste Zweifel an der Echtheit der Marxschen Texte tauchten bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung des dritten Bandes auf, für dessen Vorbereitung Engels noch einmal rund zehn Jahre benötigte. Die ersten Kritiken erreichten ihn noch vor seinem Tode, doch seine letzte Rechtfertigung konnte an dem Verdacht nichts ändern. Zeitgenossen vermuteten sogar, daß sich im Nachlaß von Karl Marx eine unveröffentlichte mathematische Formel für den wirtschafflichen Zusasnmenbruch des Kapitalismus finden müsse.
Erst Karl Kautsky kam 1925 zu dem Schluß: „Man müßte sämtliche Marxschen Manuskripte, so wie sie sind, veröffentlichen." Damals plante eine Arbeitsgruppe um den sowjetischen Philosophen Rjasanow dieses Mammutprojekt. Doch der fiel den stalinistischen Säuberungen zu Opfer, das Vorhaben verschwand bis zu den siebziger Jahren in der Schublade. Die zweite MEGA, eine Kooperation zwischen der SED und der Kommunistischen Parteder Sowjetunion, wurde 1972 beschlossen.
Ihre Editionsrichtlinien orientierten sich an zwar innovativen Editionskonzepten und wurden von der internationalen Fachwelt positiv aufgenommen". Allerdings spiegelten sich auch hier die parteipolitischen Zwänge in den Einleitungen, Kommentaren und Registern wider", meinte Jürgen Rojahn vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, das den Nachlaß von Marx und Engels in Amsterdam verwaltet. „Um das Projekt fortzuführen, haben wir den konsequenten Verzicht auf die Politisierung der Schriften zur Bedingung gemacht."
1990 riefen Forscher in Amsterdam und Trier gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Internationale Marx-Engels-Stiftung ins Leben, die die Herausgeberrechte für die Nachlässe besitzt und neue Editionsrichtlinien für eine rein akademische MEGA festlegte. Wie es die Ironie der Geschichte will, steht das Großkapital auch bei den jüngsten Forschungen zum „Kapital" Pate: Die jüngste Fachtagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt.
Die Redaktionskommission entschied nun, das Engelssche Redaktionsmanuskript zum zweiten Band des „Kapital" als Band II/12 der neuen MEGA herauszugeben. In Band II/13 wird die Druckfassung der ersten deutschen Ausgabe des zweiten „Kapital"-Bandes editiert, mit einem Register über die Abweichungen zur Redaktionsfassung von Engels. Beide Bände könnten frühestens im kommenden Jahr erscheinen. Bis 2005 wäre es dann möglich, die gesamte MEGA Abteilung, „Das Kapital und seine Vorarbeiten", abzuschließen.
("Der Tagesspiegel" vom 25. Mai 1999, S. 32)
Der zweite und dritte Band des „Kapital" bereiten den Forschern Kopfzerbrechen: Was ist davon noch ein Original-Marx?
VON HEIKO SCHWARZBURGER
Die wichtigsten Bücher der Menschheit sind von Geheimnissen umwoben. So ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ob Moses tatsächlich der Autor der nach ihm benannten fünf Bücher des Alten Testaments war. Auch Karl Marx wurde und wird von einigen als Prophet verehrt. Die handschriftlichen Manuskripte zum „Kapital", dessen drei Bände über 27 Jahre verteilt erschienen, stammen zwar zweifellos von ihm. Doch könnte es sein, daß es sich bei den gedruckten Ausgaben des zweiten und dritten Bandes nicht um Marx pur handelt. Der Philosoph konnte nur den ersten Band im Jahre 1867 selbst herausgeben, er starb 1883. Da niemand außer Friedrich Engels die Handschrift des Autors entziffern konnte, sichtete der langjährige Freund die riesige Manuskriptsammlung. Selbst hochbetagt, stellte er die Vorlagen von Karl Marx zu einem druckreifen Werk zusammen. Der zweite Band erschien 1885, neun Jahre später folgte der dritte.
Inwieweit hat Engels dabei die Ideen seines Freundes verändert? Für die Editoren der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften steckt diese Frage voller Brisanz. Derzeit bemühen sich Forscher aus Deutschland, Rußland, Japan, Frankreich und den Niederlanden um die möglichst originalgetreue Ausgabe des zweiten Bandes des „Kapital". Ihre Untersuchungen in den Archiven von Moskau und Amsterdam brachten Erstaunliches zutage: „Marx hat nie ein fertiges Manuskript für den zweiten Band vorgelegt", berichtete Carl Erich Vollgraf von der Akademie auf einer Fachtagung.
In akribischer Kleinarbeit haben die Editoren die Veränderungen zu den Originalmanuskripten analysiert. „Wir konnten die Texte von Karl Marx soweit erfassen und entziffern, daß wir mit Bestimmtheit sagen können, daß Engels auf jeder Seite mindestens eine bedeutende Änderung vorgenommen hat", sagte Ljudmila Vasina vom Moskauer Zentrum fur zeitgeschichtliche Dokumentation.
Hinter der detektivischen Archivarbeit steckt eine Generaldebatte um die Authentizität des zweiten Bandes des Kapital. Bislang galt die Druckfassung von 1885 unbestritten als Marxsches Original. In den letzten Jahren vor seinem Tod hatten Marx und Engels aber ein schwieriges Verhältnis. Engels sah, daß die Veröffentlichung des Riesenwerkes zum Wettlauf mit der Zeit geriet. Oft drängte er Marx, die Arbeiten zum zweiten Band schneller zu beenden. Zunehmend durch Krankheiten ans Bett gefesselt, entzog sich Marx diesem Druck seines Herausgebers, indem er sich über den Stand der Vorarbeiten ausschwieg. Engels schrieb später im Vorwort zum zweiten Band des „Kapital": "lch habe mich damit begnügt, die Manuskripte so wörtlich wie möglich wiederzugeben, nur da erläuternde Zwischensätze und Ubergänge einzuschieben, wo dies absolut nötig und der Sinn obendrein ganz unzweifelhaft war. Die von mir herrührenden Umarbeitungen und Einschiebungen betragen im ganzen noch keine zehn Druckseiten und sind nur formeller Natur."
Die Manuskripte, die Engels verwendete, stammen aus den Jahren 1867 bis 1880. Er schrieb 37 Seiten ab, dann wurden seine Augen so schlecht, daß er die Texte seinem Sekretär Oskar Eisengarten diktierte. „Engels benutzte die Marxschen Vorlagen, ohne über die Absichten von Marx vor seinem Tode im Bilde zu sein", resümierte Carl-Erich Vollgraf. Marx legte zu verschiedenen Themen oft mehrere Manuskripte an, aus unterschiedlichen Stadien seiner wissenschafflichen Arbeit. Engels verwendete stets das letztdatierte. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Marx dieselbe Fassung gewählt hätte.
Erste Zweifel an der Echtheit der Marxschen Texte tauchten bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung des dritten Bandes auf, für dessen Vorbereitung Engels noch einmal rund zehn Jahre benötigte. Die ersten Kritiken erreichten ihn noch vor seinem Tode, doch seine letzte Rechtfertigung konnte an dem Verdacht nichts ändern. Zeitgenossen vermuteten sogar, daß sich im Nachlaß von Karl Marx eine unveröffentlichte mathematische Formel für den wirtschafflichen Zusasnmenbruch des Kapitalismus finden müsse.
Erst Karl Kautsky kam 1925 zu dem Schluß: „Man müßte sämtliche Marxschen Manuskripte, so wie sie sind, veröffentlichen." Damals plante eine Arbeitsgruppe um den sowjetischen Philosophen Rjasanow dieses Mammutprojekt. Doch der fiel den stalinistischen Säuberungen zu Opfer, das Vorhaben verschwand bis zu den siebziger Jahren in der Schublade. Die zweite MEGA, eine Kooperation zwischen der SED und der Kommunistischen Parteder Sowjetunion, wurde 1972 beschlossen.
Ihre Editionsrichtlinien orientierten sich an zwar innovativen Editionskonzepten und wurden von der internationalen Fachwelt positiv aufgenommen". Allerdings spiegelten sich auch hier die parteipolitischen Zwänge in den Einleitungen, Kommentaren und Registern wider", meinte Jürgen Rojahn vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, das den Nachlaß von Marx und Engels in Amsterdam verwaltet. „Um das Projekt fortzuführen, haben wir den konsequenten Verzicht auf die Politisierung der Schriften zur Bedingung gemacht."
1990 riefen Forscher in Amsterdam und Trier gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Internationale Marx-Engels-Stiftung ins Leben, die die Herausgeberrechte für die Nachlässe besitzt und neue Editionsrichtlinien für eine rein akademische MEGA festlegte. Wie es die Ironie der Geschichte will, steht das Großkapital auch bei den jüngsten Forschungen zum „Kapital" Pate: Die jüngste Fachtagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt.
Die Redaktionskommission entschied nun, das Engelssche Redaktionsmanuskript zum zweiten Band des „Kapital" als Band II/12 der neuen MEGA herauszugeben. In Band II/13 wird die Druckfassung der ersten deutschen Ausgabe des zweiten „Kapital"-Bandes editiert, mit einem Register über die Abweichungen zur Redaktionsfassung von Engels. Beide Bände könnten frühestens im kommenden Jahr erscheinen. Bis 2005 wäre es dann möglich, die gesamte MEGA Abteilung, „Das Kapital und seine Vorarbeiten", abzuschließen.
("Der Tagesspiegel" vom 25. Mai 1999, S. 32)
Der Maulwurf gräbt weiter
Der Maulwurf gräbt weiter
Interpretation vor Veränderung: Marx entwickelt ein Theoriemodell der kapitalistischen Produktionsweise, aus der sich erst eine revolutionäre Praxis ableiten läßt
Roberto Fineschi
In: junge Welt vom 11.04.2007
Vom 20. bis 22. April findet in Berlin eine breit angelegte Konferenz zum »Marxismus für das 21. Jahrhundert« statt. In einer vorbereitenden Debatte bittet jW Marxisten, vier Aspekte zur Theoriebildung zu überdenken: Was macht einen »Marxismus für das 21. Jahrhundert« notwendig? Was unterscheidet ihn vom Marxismus des 20. und dem des 19. Jahrhunderts? Welche Bestandteile des bisherigen Marxismus dürfen in dem für das 21. Jahrhundert nicht fehlen? Worin sollte sein theoretischer Schwerpunkt liegen? Nach dem Glasgower Informatiker Paul Cockshott (jW vom 3.4.) und dem Pädagogen Thomas Wagner (jW vom 10.4.) lesen Sie heute einen Beitrag des italienischen Philosophen Roberto Fineschi aus Siena. Er erhielt 2002 den David-Rjazanov-Preis des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition und ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken.
Marx und Marxismus sind nicht dasselbe! Mit dieser These soll nicht zum wiederholten Male eine revisionistische Sichtweise des berühmten Marxschen Zitates »Ich bin kein Marxist!« aufgewärmt werden, wonach entweder der Marxismus nichts mit Marx zu tun habe oder der zweite vom ersten verraten worden sei. Es wäre falsch, sowohl Marxens Theorie auf den Marxismus zu reduzieren als auch eine unmittelbare Deduktion des zweiten aus der ersten anzunehmen. Das Verhältnis beider zueinander kann nur eine Vermittlung sein: Die Interpretation der Marxschen Theorie entwickelt Marxismen und aus den Marxismen entstehen Interpretationen des Werks des Klassikers. Das heißt, daß verschiedene Marxismen heutzutage wirkkräftg sind bzw. theoretisch weitere möglich sind. Die Tatsache, daß viele verschiedenartig und nicht selten einander entgegensetzt waren, weist darauf hin, wie unterschiedlich solche Vermittlungen sein können.
Kapitalismus als Modell
Erst heutzutage und damit erstmals in der Interpretationsgeschichte ist es dank der neuen historisch-kritischen »Marx-Engels-Gesamtausgabe« (MEGA) möglich, Marxens Theorie gründlich zu untersuchen. Diese Edition liefert Wissenschaftlern zum erstenmal vielfältige Materialien - besonders, aber nicht nur, was Marxens Hauptwerk »Das Kapital« betrifft -, auf deren Grundlage eine Rekonstruktion seines Denkens als Ganzes versucht werden kann. Auf die theoriebildenden Möglichkeiten, die die MEGA in sich trägt, ist noch nicht genügend aufmerksam gemacht worden. Besonders wichtig ist die zweite, dem »Kapital« und dessen Vorarbeiten gewidmete Abteilung in der Gesamtausgabe (siehe dazu
marxforschung.de/mega.htm
). Hier sind erstmals viele Marxsche und Engelssche Manuskripte zur Kapitaltheorie in originaler Fassung erschienen; hier sind alle Texte versammelt, die Engels für den zweiten und dritten Band des »Kapitals« nach Marxens Tod der Öffentlichkeit vorlagen.
Obwohl zuzugeben ist, daß der junge Marx vor genialen Ideen übersprudelte, ist seine Kapitaltheorie der eigentliche theoretische Beitrag von historischem Belang - auch wenn einige Menschen sie nicht schätzen. Aufgrund der MEGA wurde über bestimmte Schwerpunkte - wie Waren- und Wertformanalyse, Geschichtstheorie, Methode, Dialektik, das Verhältnis von Hegel und Marx sowie das von Marx und Engels - diskutiert. Themen, die selbstverständlich nicht neu sind, die aber mit der MEGA eine neue Textgrundlage haben.
Aktuellen Angriffen, nach denen Marxens Theorie der kapitalistischen Produktionsweise endgültig für anachronistisch zu halten sei, ist zu entgegnen: Wenn wir seine Theorie richtig verstehen - das heißt, wenn wir berücksichtigen, daß Marx sich um die Untersuchung der Gesetze einer weltgeschichtlichen Epoche bemüht hat, seine Theorie deshalb stark abstrakt ist, und wir uns beidem bewußt sind -, dann ist diese Theorie eine der wenigen, die eine kohärente Erklärung für zahlreiche Ereignisse der gegenwärtigen Welt bietet: Globalisierung, rücksichtslose Steigerung der Produktivität, ökonomische Krisen, Aufstieg des Finanzkapitals usw. finden in Marxens Kapitaltheorie ihre angemessene systematische Zuordnung.
Die von ihm im 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien sind nach wie vor gültig, da Marx nicht von »Kapitalismus« spricht (das Wort gebraucht er im »Kapital« nur einmal). Obgleich er den englischen Kapitalismus als Beispiel verwendete, weil England damals diesbezüglich das entwickeltste Land war, erarbeitet seine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise Kategorien, die unmittelbar nicht der Realität eines konkreten Landes entsprochen haben. Dies kann und soll auch nicht der Fall sein, da die Kategorien Teile, Momente eines wissenschaftlichen Modells sind, das nur durch weitere theoretische Schritte eine »empirische«, auf konkrete Nationalstaaten anwendbare Form erhalten kann. Das Theoriemodell der kapitalistischen Produktionsweise ist ideal und keine Untersuchung empirischer Sachverhalte, sie ist ein Mittel zur wissenschaftlichen Untersuchung der zwar realen, aber nach Zeit und Raum verschiedenen Kapitalismen. Das Modell bzw. sein begrifflicher Apparat kann wirksam benutzt werden, wenn wir uns seines grundlegenden Charakterzugs bewußt sind: richtige begriffliche Konstruktion der allgemeinen Zusammenhänge des Kapitalismus, aber unmögliche unmittelbare Anwendbarkeit.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) entwickelte in seiner »Phänomenologie des Geistes«, an deren Veröffentlichung vor 200 Jahren momentan erinnert wird, die Unterscheidung zwischen »Form« und »Gestalt«. Formen sind die Kategorien, die als logische Momente innerhalb einer Theorie verstanden werden müssen; Gestalten sind besondere Kategorien, bestimmte Konkretisierungen, in denen sich jene abstrakten, rein theoretischen Formen in der wirklichen Geschichte ausdrücken. Nehmen wir z. B. die Subsumption der Arbeit unter das Kapital, wie sie in der vierten Abteilung des ersten Bandes des »Kapitals« beschrieben wird: Die Form, die die Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozeß im Gegensatz zum feudalen annimmt, drückt die organisierende Kraft der Arbeit aus, in der der Arbeiter Moment dieses objektiven Prozesses ist. Die Gestalten, in denen jene Form geschichtlich erschienen sind, sind Kooperationen, Manufakturen und die große Industrie. Verschiedene Gestalten können also jene eine Form vorstellen, und der Untergang einer Gestalt bedeutet nicht, daß die Form als solche untergegangen ist. Vor diesem Hintergrund kann der Fabrikarbeiter nicht das einzige mögliche Subjekt des Übergangs zu einer anderen Produktionsweise und einer entsprechenden Politik dafür sein. Das der kapitalistischen Produktionsweise grundlegende historische Verhältnis ist das zwischen Kapital und Lohnarbeiter, die Lohnarbeit ist daher das gesellschaftliche Phänomen, in dem die Subjekte einer neuen Gesellschaft zu finden sind. Die Fabrikarbeiter gehören selbstverständlich dazu, aber sie sind nicht die einzigen. In einer Phase der kapitalistischen Produktionsweise waren sie die legitime Gestalt der emanzipatorischen Klasse, aber in einer anderen können sie von anderen Gestalten begleitet oder sogar durch sie ersetzt werden, ohne daß der Begriff »Lohnarbeit« aus der marxistischen Theorie gestrichen werden müßte und die reale Lohnarbeit als antagonistische Kraft dieser Gesellschaftsformation sich auflösen würde.
Die Fähigkeit des Marxschen Modells, die Welt richtig zu interpretieren, ist deswegen nicht auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt. Mein Beispiel zeigt, daß der alte »Mohr«, wie man Marx in seiner Familie nannte, nicht tot ist. Neue Materialien und alte, sichere Perspektiven stellen noch heute wichtige Theorieinstrumente zur Verfügung, um unser Denken über die Gegenwart zu ordnen.
Grund für Marxismen
Bis jetzt ist von der Interpretation der Welt gesprochen worden, aber sollte es nicht um die Veränderung der Welt gehen? Kehren wir uns deshalb von Hegel wieder ab und kommen zum Marxismus zurück. Bevor die Frage nach dem Marxismus für das 21. Jahrhundert beantwortet werden kann, soll man wissen, was »Marxismus« heißt. Im Stichwort »Karl Marx« des enzyklopädischen Wörterbuches »Granat« schrieb Lenin (1870-1924): »Der Marxismus ist das System der Auffassungen und der Lehre von Karl Marx.« Dann fuhr er mit einer Darlegung der allgemeinen Grundsätze von Marxens Denken fort und schloß mit einem Kapitel über die Taktik des Proletariats. Meine Absicht ist es nicht, eine allgemeine Beurteilung Lenins als Politiker und Denker zu liefern, aber beschränkt auf diesen Satz und angesichts der eingeführten Unterscheidung zwischen Form und Gestalt, würde ich den Marxismus eher als eine politische, von Marxens Lehre beeinflußte Praxis definieren. Mit Marxens Theorie und deren Abstraktionsniveau kann zugleich gezeigt werden, daß keine politische Praxis unmittelbar von jener Theorie ableitbar ist. Marxens offensichtliche Politikleidenschaft soll seine Theorieleidenschaft nicht vergessen lassen: »Das Kapital« ist vor allem eine Theorie, die Folgen für Politik und Praxis hat, aber eben nicht unmittelbar. Marx war kein Theoretiker des Primats der Praxis. Mensch seiner Zeit, hatte er durch die damalige Wissenschaft eine objektive, und von Hegel eine geschichtlich-vernünftige Erkenntnisauffassung gelernt. Das praktische und subjektive Moment ist in seiner Theorie einbegriffen; es kann aber nicht von einem Primat die Rede sein.
Was ist dann der Zweck des Marxismus? Wir haben gesehen, daß in bestimmten Phasen der kapitalistischen Produktionsweise die Formen verschiedene Gestalten annehmen. Die nicht selten mehrstufigen Vermittlungen - die notwendig sind, um die Verbindungen von Formen und Gestalten herauszufinden - sind schwierig nachzuvollziehen. Zweck des Marxismus ist es, aufgrund einer plausiblen Rekonstruktion dieser Vermittlungen, potentielle politische Subjekte zu bestimmen und mitzuorganisieren sowie praktisch ausführbare Ziele solcher Organisation zu setzen, die schließlich in der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise münden.
Die Absicht, die Welt zu verändern, schließt ein, daß sie zuvor implizit oder explizit interpretiert worden ist. Die wegen der vielen Vermittlungsstufen zwischen Form und Gestalt schwierige Theoriearbeit ist nicht nur kompliziert, sondern es zeigen sich bei der Rekonstruktion der Vermittlungen verschiedene theoretische Möglichkeiten. Ähnliche Fragestellung können unterschiedliche praktische Antworten haben. Verschiedene Positionen sind möglich und in gewissem Maße gerechtfertigt. Dadurch ergeben sich verschiedene Marxismen.
Der Marxismus ist notwendig, denn die Absicht, eine vernünftigere, dem gegenwärtigen Begriff des Menschen entsprechendere gemeinschaftliche Form der Gesellschaft zu schaffen, kann nur aufgrund der Marxschen Kategorien durchgeführt werden.
Ich bin theoretisch überzeugt, daß die Grundlage der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise richtig ist. Dadurch ist der widersprüchliche Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft offengelegt. Die tragischen, epochalen Folgen dieses Widerspruchs sind uns allen mehr oder weniger bewußt deutlich. Man kann sich in diesem Zustand entweder passiv oder aktiv verhalten; beide Verhalten sind »politisch« im weiteren Sinn nachvollziehbar. Da nach Marx aber für ein Gesellschaftsmitglied eine politische Haltung einzunehmen unvermeidlich ist, ist es theoretisch möglich, daß eine politische Handlung von Marxens Theorie beeinflußt sein kann, und daß folglich diese Handlung also in einem bestimmten Sinn nichts anderes als Marxismus ist. Dieser individuellen Dimension nach dem Fall der Sowjetunion eine organisierte und programmatische Perspektive zu geben, ist kein einfaches theoretisches und politisches Vorhaben.
Offene Fragen beantworten
Der Marxismus für das 21. Jahrhundert muß zunächst Antworten auf verschiedene offene theoretische Fragen liefern. Den Marxismus für das 21.Jahrhundert unterscheidet von dem des 19. Jahrhunderts zuerst eine genauere Kenntnis des Marxschen Nachlasses. Das theoretische Bewußtsein der Unterscheidung zwischen Marxens Theoriemodell und den verschiedenen möglichen Anwendungen seines Denkens, zwischen Formen und Gestalten im Kapitalismus ist der erste Schritt, um eine kohärentere Praxis auszuarbeiten.
In der Vergangenheit konnten (wenigstens in Italien) Philosophen beobachtet werden, die viel spekuliert haben, ohne die Kapitaltheorie in ihr Denken einzubeziehen, und andererseits Ökonomen, die die philosophisch-dialektischen Aspekte der Kapitaldarstellung in der Analyse der logischen Struktur des Kapitalbegriffs vernachlässigt haben. Weiterhin hat der Pragmatismus der marxistischen Bewegung, das sogenannte Primat des Politischen, allmählich die theoretische Kohärenz jener Einheit von Theorie und Praxis, das der Marxismus sein soll, erschwert, auch weil Theoretiker sich z. B. mit philologisch inakzeptable Reduktionen - wie jene der sogenannten Arbeitswerttheorie (ein Ausdruck, den Marx nie benutzt hat) - auseinandersetzten.
Ebenso hat man einzelne Teile des Marxschen Denkens verselbständigt und daraus Gesamtweltanschauungen entwickelt. Von einzelnen Texten wie etwa den »Thesen über Feuerbach« oder der Einleitung in »Zur Kritik der politischen Ökonomie« oder der »Einführung von 1857« ausgehend, glaubten einige Marxisten, den Schlüssel für ein eindeutiges Weltverständnis zu besitzen.
Zum Teil hat mangelnde Theorie zu praktischen Abenteuern geführt, zum Teil hat eine zur Praxis überorientierte Theorie nicht die Notwendigkeit gesehen, sich mit jenen Mängeln grundlegend auseinanderzusetzen.
Schließlich haben wir heute die teilweise tragischen, teilweise positiven Erfahrungen vergangener Marxismen, von denen wir lernen können. Nehmen wir zum Beispiel die Wirtschaftsplanung. Nach Marx sollte diese die rationale Lösung der ökonomischen Anarchie des Kapitalismus sein; sie sollte produktiver als die kapitalistische Produktionsweise sein. So verhielt es sich in der Sowjetunion nicht. Diese Erfahrung und die Lösungen, nach denen dort gesucht wurde, sollen tiefgründig untersucht werden, um eine Alternative zur kapitalistisch betriebenen Ökonomie zu bilden.
Wie gesagt, ist der Marxismus kein einheitlicher Monolith. Es ist also schwierig, Bestandteile zu fixieren. In seinen »Gefängnisheften« ist Antonio Gramsci (1891-1937) - obgleich in einer umstrittenen Weise - Theoretiker der Praxis. Daher ist im gewissen Maße das Primat, das er ihr gibt, theoretisch und praktisch gefährlich. Andererseits entwickelt er eine detaillierte Analyse der damals gegenwärtigen Strukturen der Gesellschaft und der Geschichte Italiens, die in die Richtung einer Konkretisierung der Untersuchung fortgeht, und die manche Glieder in der Kette, die vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigt, hinzufügt. Seine Theorie der Hegemonie kann in diesem Sinn interpretiert werden. Ein zweites Beispiel: Die Mängel von Lukács- (1885-1971) Theorie der Verdinglichung in »Geschichte und Klassenbewußtsein« wurden z. B. von ihm selbst später in »Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins« anerkannt und in einer komplexeren Darstellung der Kategorie der Arbeit behoben. Das ist ein selbstkritisches Verfahren, das methodologisch zu berücksichtigen ist.
Zeit des Nachdenkens
Die Herausforderung eines neuen Marxismus ist jedoch nach wie vor die Fähigkeit, die Praxis mit der Theorie zu verbinden, ohne entweder die letzte auf die erste zu reduzieren, oder die Theorie als rein selbständige Tätigkeit zu fassen. Ohne eine gute Theorie, worüber wir jetzt nur zum Teil verfügen, wird unsere Praxis in großem Maß außer Kontrolle sein.
Die hier vorgestellte Haltung kann intellektualistisch aussehen. Vielleicht kommt es auch auf den historischen Moment an: Heute befinden wir uns - Intellektuelle, Politiker, Arbeiter, die sich irgendwie an Marx für ihre Denkart und Aktion anlehnen - in der Phase nach einer epochalen Niederlage. Der erlebte Umsturz hat viele politische, aber auch geistige Opfer gefordert. Wie Gramsci im Gefängnis schrieb, sind solche Momente diejenigen des Nachdenkens.
Vielleicht arbeiten die Marxisten hart, ihre nächsten Fehler vorzubereiten - Bertolt Brecht (1898-1956) paraphrasierend; aber auf dem Wege zu einer neuen Formation der Gesellschaft sind viele Fehler voraussehbar. Unter den Trümmern begraben, gräbt der alte Maulwurf weiter - Hegels Bild der für den einzelnen Theoretiker undurchsichtigen Entwicklung der Vernunft.
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