Wednesday, 29 September 2010

Engels hat fast jede Seite verändert (MEGA-website)

Engels hat fast jede Seite verändert
Der zweite und dritte Band des „Kapital" bereiten den Forschern Kopfzerbrechen: Was ist davon noch ein Original-Marx?
VON HEIKO SCHWARZBURGER
Die wichtigsten Bücher der Menschheit sind von Geheimnissen umwoben. So ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ob Moses tatsächlich der Autor der nach ihm benannten fünf Bücher des Alten Testaments war. Auch Karl Marx wurde und wird von einigen als Prophet verehrt. Die handschriftlichen Manuskripte zum „Kapital", dessen drei Bände über 27 Jahre verteilt erschienen, stammen zwar zweifellos von ihm. Doch könnte es sein, daß es sich bei den gedruckten Ausgaben des zweiten und dritten Bandes nicht um Marx pur handelt. Der Philosoph konnte nur den ersten Band im Jahre 1867 selbst herausgeben, er starb 1883. Da niemand außer Friedrich Engels die Handschrift des Autors entziffern konnte, sichtete der langjährige Freund die riesige Manuskriptsammlung. Selbst hochbetagt, stellte er die Vorlagen von Karl Marx zu einem druckreifen Werk zusammen. Der zweite Band erschien 1885, neun Jahre später folgte der dritte.
Inwieweit hat Engels dabei die Ideen seines Freundes verändert? Für die Editoren der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften steckt diese Frage voller Brisanz. Derzeit bemühen sich Forscher aus Deutschland, Rußland, Japan, Frankreich und den Niederlanden um die möglichst originalgetreue Ausgabe des zweiten Bandes des „Kapital". Ihre Untersuchungen in den Archiven von Moskau und Amsterdam brachten Erstaunliches zutage: „Marx hat nie ein fertiges Manuskript für den zweiten Band vorgelegt", berichtete Carl Erich Vollgraf von der Akademie auf einer Fachtagung.
In akribischer Kleinarbeit haben die Editoren die Veränderungen zu den Originalmanuskripten analysiert. „Wir konnten die Texte von Karl Marx soweit erfassen und entziffern, daß wir mit Bestimmtheit sagen können, daß Engels auf jeder Seite mindestens eine bedeutende Änderung vorgenommen hat", sagte Ljudmila Vasina vom Moskauer Zentrum fur zeitgeschichtliche Dokumentation.
Hinter der detektivischen Archivarbeit steckt eine Generaldebatte um die Authentizität des zweiten Bandes des Kapital. Bislang galt die Druckfassung von 1885 unbestritten als Marxsches Original. In den letzten Jahren vor seinem Tod hatten Marx und Engels aber ein schwieriges Verhältnis. Engels sah, daß die Veröffentlichung des Riesenwerkes zum Wettlauf mit der Zeit geriet. Oft drängte er Marx, die Arbeiten zum zweiten Band schneller zu beenden. Zunehmend durch Krankheiten ans Bett gefesselt, entzog sich Marx diesem Druck seines Herausgebers, indem er sich über den Stand der Vorarbeiten ausschwieg. Engels schrieb später im Vorwort zum zweiten Band des „Kapital": "lch habe mich damit begnügt, die Manuskripte so wörtlich wie möglich wiederzugeben, nur da erläuternde Zwischensätze und Ubergänge einzuschieben, wo dies absolut nötig und der Sinn obendrein ganz unzweifelhaft war. Die von mir herrührenden Umarbeitungen und Einschiebungen betragen im ganzen noch keine zehn Druckseiten und sind nur formeller Natur."
Die Manuskripte, die Engels verwendete, stammen aus den Jahren 1867 bis 1880. Er schrieb 37 Seiten ab, dann wurden seine Augen so schlecht, daß er die Texte seinem Sekretär Oskar Eisengarten diktierte. „Engels benutzte die Marxschen Vorlagen, ohne über die Absichten von Marx vor seinem Tode im Bilde zu sein", resümierte Carl-Erich Vollgraf. Marx legte zu verschiedenen Themen oft mehrere Manuskripte an, aus unterschiedlichen Stadien seiner wissenschafflichen Arbeit. Engels verwendete stets das letztdatierte. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Marx dieselbe Fassung gewählt hätte.
Erste Zweifel an der Echtheit der Marxschen Texte tauchten bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung des dritten Bandes auf, für dessen Vorbereitung Engels noch einmal rund zehn Jahre benötigte. Die ersten Kritiken erreichten ihn noch vor seinem Tode, doch seine letzte Rechtfertigung konnte an dem Verdacht nichts ändern. Zeitgenossen vermuteten sogar, daß sich im Nachlaß von Karl Marx eine unveröffentlichte mathematische Formel für den wirtschafflichen Zusasnmenbruch des Kapitalismus finden müsse.
Erst Karl Kautsky kam 1925 zu dem Schluß: „Man müßte sämtliche Marxschen Manuskripte, so wie sie sind, veröffentlichen." Damals plante eine Arbeitsgruppe um den sowjetischen Philosophen Rjasanow dieses Mammutprojekt. Doch der fiel den stalinistischen Säuberungen zu Opfer, das Vorhaben verschwand bis zu den siebziger Jahren in der Schublade. Die zweite MEGA, eine Kooperation zwischen der SED und der Kommunistischen Parteder Sowjetunion, wurde 1972 beschlossen.
Ihre Editionsrichtlinien orientierten sich an zwar innovativen Editionskonzepten und wurden von der internationalen Fachwelt positiv aufgenommen". Allerdings spiegelten sich auch hier die parteipolitischen Zwänge in den Einleitungen, Kommentaren und Registern wider", meinte Jürgen Rojahn vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, das den Nachlaß von Marx und Engels in Amsterdam verwaltet. „Um das Projekt fortzuführen, haben wir den konsequenten Verzicht auf die Politisierung der Schriften zur Bedingung gemacht."
1990 riefen Forscher in Amsterdam und Trier gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Internationale Marx-Engels-Stiftung ins Leben, die die Herausgeberrechte für die Nachlässe besitzt und neue Editionsrichtlinien für eine rein akademische MEGA festlegte. Wie es die Ironie der Geschichte will, steht das Großkapital auch bei den jüngsten Forschungen zum „Kapital" Pate: Die jüngste Fachtagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt.
Die Redaktionskommission entschied nun, das Engelssche Redaktionsmanuskript zum zweiten Band des „Kapital" als Band II/12 der neuen MEGA herauszugeben. In Band II/13 wird die Druckfassung der ersten deutschen Ausgabe des zweiten „Kapital"-Bandes editiert, mit einem Register über die Abweichungen zur Redaktionsfassung von Engels. Beide Bände könnten frühestens im kommenden Jahr erscheinen. Bis 2005 wäre es dann möglich, die gesamte MEGA Abteilung, „Das Kapital und seine Vorarbeiten", abzuschließen.
("Der Tagesspiegel" vom 25. Mai 1999, S. 32)

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