Wednesday, 5 December 2012

Besprechung vom MEGA-Band II/4.3


Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/805854.die-taeuschung-des-marktes-which-is-which.html?sstr=Which|which

Die Täuschung des Marktes: Which is which?

Neuer MEGA-Band erschienen - Nunmehr liegen erstmals alle Quellschriften zum »Kapital« vor

Aufatmen unter den aktiven, den »kritischen« Marxisten aller Länder und im kleineren Kreis an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ediert wird: Mit den letzten 15 Entwürfen, Skizzen und Quellenextrakten, die noch nicht von früheren Marx-Ausgaben bekannt waren, schließt der Teilband 4.3 die Abteilung Zwei - »Das Kapital« und Vorarbeiten - ab. Zum ersten Mal liegen sämtliche ökonomische Schriften von Karl Marx in quellengeprüfter Transkription vor, darunter tausende Seiten bisher nie Gedrucktes. Erst jetzt sei es möglich, das Werk des kommunistischen Privatgelehrten und Politikers richtig zu beurteilen, meint Herfried Münkler von der MEGA-Leitungskommission.
Marx zusätzlich aktualisiert. Inzwischen beziehen sich Ökonomen und Kommentatoren bis ins bürgerliche Feuilleton hinein auf den tiefschürfendsten unter den Kritikern des Kapitalismus. Neu ist, dass seit dem Bankencrash 2008 einige Medien, wenn auch zögerlich, fast verschämt, die Systemfrage stellen. Wenige Wochen vor Erscheinen dieses Bandes ließ die »Süddeutsche Zeitung« mit der Kopfzeile »Hatte Marx doch recht?« aufhorchen. Franziska Augstein hat eine erstaunlich direkte Eloge pro Marx geschrieben. Der Wirtschaftsredakteur Nikolaus Piper gab das Contra: »Warum Marx unrecht hat«. Vor dem Hintergrund auch der neuen Texte liest sich dessen Pamphlet fast wie eine Satire. Piper bedient sich der abwegigsten Klischees. Für ihn ist die Ausbeutung der Arbeiter im Kapitalismus eine bloße Behauptung. Sie beruhe »auf der Theorie, dass nur Arbeit, nicht Kapital Wert schafft«. Aha, nach Piper »schafft« also das Kapital, selbst wenn es bloß börsenfiktiv als Spekulationsmasse herumstreunt, Werte. Deshalb der paradoxe Begriff »Finanzindustrie«.
Das ist »dieselbe optische Täuschung« - hier kommen wir auf den angezeigten Band zurück -, die den Kapitalisten narrt, weil er annimmt (oder schlitzohrig behauptet), dass der mit allen Tricks erpresste Mehrwert beziehungsweise Gewinn auf dem Markt erwirtschaftet wird. Demgegenüber führt Marx im sogenannten Manuskript IV verbal wie rechnerisch exakt vor, wie der Mehrwert zwar in der Zirkulation realisiert wird, nämlich durch Verkauf der Ware, produziert aber wird er durch »verwertete« Arbeitskraft in der Produktion. Allerdings brächten es die »Privatabentheuer des Markts« mit sich, schreibt Marx, dass »die Quelle des Mehrwerths vielfach getrübt und versteckt (wird), bis der Kapitalist am Ende selber nicht mehr weiß, which is which«. Und der Herr Journalist auch nicht. Weil die Edelfedern des Marktes zumeist aus begüterten Familien stammen und das Lied des Mainstream singen. Zu Recht erhielt die Redaktion auf Pipers Artikel nur widersprechende Leserbriefe.
Dieser Band nun bietet einmal mehr tiefe Einblicke in die Arbeitsweise »eines der letzten großen Universalgelehrten« (Gerald Hubmann). Marx war ein konzeptioneller Denker, aber ein weitgehend unkonzeptioneller, sprunghafter Schreiber. 1868 hat er an drei großen Manuskripten parallel gearbeitet, dazwischen die »Kommentierten Auszüge aus Adam Smith« angefertigt und vier immer wieder abgebrochene Fassungen des ersten Kapitels zu Buch Drei geschrieben. Einer der Haupttexte nennt sich »Über Mehrwert- und Profitrate, Gesetze der Profitrate, Kostpreis und Umschlag des Kapitals«. Ein fast als Rechentext zu bezeichnendes Konvolut. Marx konzentriert sich in seinen Studien der Jahren 1867/68 auf ungelöste Fragen des dritten Buches, behandelt aber auch Aspekte des zweiten und beleuchtet immer wieder Probleme in anderem Kontext.
Manchmal verläuft sich die Darstellung in Einzelbetrachtungen oder ergänzenden Beispielen. Es sind »lebende Texte«, die an kein Ende kommen. Blättert man die Mehrwert-Profitraten-Seiten durch, ist man erschrocken über ein Wirrwar von Formeln und Rechnungen. Das ist etwas für Insider. Marx bemühte sich um eine mathematische Formalisierung zentraler Themenkreise. Als Engels monierte, er könne doch in einer Rezension für die »Fortnightly Review« dem Leser nicht mit den »Gleichungen W - G - W etc.« kommen, erwidert Marx: »Man verlangt Neues. Neues in Form und Inhalt«. Er versuchte, auch die Konjunkturzyklen und »Hauptgesetze der Krisen« mathematisch zu erfassen, musste aber sein Scheitern eingestehen. Immerhin haben Leon Smolinski, ein Vertreter der Chicagoer Schule, und Paul A. Samuelson, Cambridge, Marx als einen der ersten »Mathematical Economists« gewürdigt.
In der Einführung räumen die Bandbearbeiter mit dem Vorurteil auf, Marx habe die Wirklichkeit des Wirtschaftens gar nicht kennengelernt. Doch allein im Zeitraum der hier besprochenen Manuskripte fachsimpelt er mit dem Assistenten des königlich-hannoverschen Statistikbüros Georg Merkel und besichtigt die Maschinenfabrik und Eisengießerei Georg Egestorff, dessen Lokomotiven und Dampfkessel seinerzeit höchsten Standard verkörperten. Der Präsident der Hannoverschen Eisenbahndirektion Albert von Maybach hatte den bei Kugelmann zu Gast weilenden Emigranten eingeladen. Transportkosten und der zähe Kapitalrückfluss bei hohen Investitionen dürfte Gegenstand des Gesprächs gewesen sein, ein Thema, an dem Marx damals intensiv arbeitete. Nicht zu vergessen: Engels, selbst angesehener Unternehmer, wird von Marx zu Fragen der Rechnungsführung, Abschreibung, Lagerhaltung, also betriebswirtschaftlichen Belangen, konsultiert.
Carl-Erich Vollgraf, der in der Einführung anhand der Manuskripte u. a. die Genese der Werttheorie verständlich zu vermitteln versucht, sieht in der Studienphase nach dem Druck des ersten »Kapital«-Bandes - entgegen anderer Interpretation - einen Innovationsschub im Schaffen von Karl Marx. Er belegt dies mit neuen Datierungen der Texte. Direkt oder hintergründig setzt sich Marx wieder mit Adam Smith auseinander. Vollgraf hierzu: Das gesamte »Kapital«-Projekt ließe sich »als sukzessive Zerschlagung des Smithschen Dogmas« verstehen. Dabei kommt Marx den »Zwangsgesetzen« des Wert-Wandels nahe wie kein anderer Ökonom seiner Zeit.
Was ist stichhaltig, gültig noch in unserer kapitalistisch geprägten Epoche? Was nur unter bestimmten, von Marx nicht näher charakterisierten Bedingungen oder bei anderer Nuancierung? Wo sind die unbelichteten Stellen, die auch der analytische Verstand eines Marx nicht zu erhellen vermochte? Welche Aspekte wurden fehlerhaft dargestellt, welche falsch interpretiert? Die korrekte Wiedergabe der »Urtexte« zum zweiten und dritten Buch des »Kapital« hat den Disput neu entfacht. Der Abgleich mit Erscheinungen des modernen Finanz- oder »Turbokapitalismus« wird viele Leser in ihrer Zustimmung zu Marx bestärken.
Die Kritiker hingegen werden weiterhin Ansatzpunkte suchen, um ihre Enterhaken in den Marxschen Korpus einzukrallen; meistens kratzen sie nur an der Oberfläche. Vielleicht trifft auf diese Texte zu, was Kafka in seinem Roman »Der Process« einen Protagonisten sagen lässt: »Die Schrift ist unvergänglich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.«

Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863 - 1868. Teil 3. Band II/4.3 Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Bearbeitet von Carl-Erich Vollgraf. Akademie Verlag, Berlin 2012. 1065 S., geb., 168 €

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