Wednesday, 24 July 2013

Kommunistisches Manifest ... im "Gedächtnis der Menschheit" verzeichnet

Quelle: http://unesco.de/ua35-2013.html


Lorscher Arzneibuch und Himmelsscheibe von Nebra sind Dokumentenerbe

Kommunistisches Manifest und Goldene Bulle ebenfalls im "Gedächtnis der Menschheit" verzeichnet

Das Lorscher Arzneibuch und die Himmelsscheibe von Nebra sind in das UNESCO-Register des Dokumentenerbes aufgenommen worden. Damit folgte Generaldirektorin Irina Bokova der Empfehlung des Internationalen Komitees "Memory of the World", das vom 18. bis 21. Juni im südkoreanischen Gwangju tagt. Zudem wurden in das Register zwei Gemeinschaftsnominierungen aufgenommen, an denen Deutschland beteiligt ist: das Kommunistische Manifest und der erste Band des Kapitals von Karl Marx als deutsch-niederländischer Eintrag sowie das Verfassungsdokument "Goldene Bulle" von 1356 als deutsch-österreichischer Eintrag.
Die Himmelsscheibe wurde vor etwa 3.600 Jahren auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt vergraben und zeugt von einem außergewöhnlich großen Verständnis für die Astronomie in einer schriftlosen Zeit. "Die Himmelsscheibe ist ein Beleg dafür, dass die Menschen in der Bronzezeit über exaktes Wissen kosmischer Zusammenhänge verfügten. Vor ihrer Entdeckung ließen bisher nur monumentale Errichtungen wie Stonehenge verschlüsselte Rückschlüsse auf frühes Wissen zu", sagt Professor Joachim-Felix Leonhard, Vorsitzender des Deutschen Nominierungskomitees "Memory of the World". Entdeckt wurde die goldverzierte Bronzescheibe 1999 bei einer Raubgrabung. Seit ihrer Sicherstellung ist die 32 cm große Himmelsscheibe im Landesmuseum Halle zu sehen.
Das Arzneibuch des Klosters Lorsch entstand um 795 bei Worms während der Herrschaft Karls des Großen. Es ist ein bedeutendes Zeugnis der mittelalterlichen Klostermedizin und besteht aus rund 500 zum Teil antiken Rezepten zur Kräuterheilkunde. "Das Lorscher Arzneibuch ergänzt die herausragenden medizinischen Handschriften, die bereits aus Korea, der Türkei, Aserbaidschan, Indien und China in das Gedächtnis der Menschheit aufgenommen wurden. Gemeinsam bilden sie ein einzigartiges Ensemble von Zeugnissen der Heilkunst und des wissenschaftlichen Fortschritts verschiedener Kulturen dieser Welt", sagt Joachim-Felix Leonhard. Die Verfasser des Arzneibuchs verteidigten die Heilkunde in der Einleitung nachdrücklich gegen Kritiker, die das Heilen seinerzeit als Eingriff in die Pläne Gottes sahen. Das 150 Seiten umfassende Werk befindet sich heute in der Staatsbibliothek Bamberg.
Die Schriften von Karl Marx wurden in das UNESCO-Dokumentenerbe aufgenommen, weil diese weltweit einen großen Einfluss auf soziale Bewegungen hatten. Das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 und der erste Band des Kapitals von 1867 wurden in fast allen Sprachen weltweit veröffentlicht. Vom kommunistischen Manifest exisitiert heute noch eine handschriftliche Seite, die in einem Amsterdamer Archiv lagert, ebenso die von Karl Marx persönlich kommentierte Ausgabe des ersten Bands des Kapitals. Die Goldene Bulle von 1356 war das wichtigste Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches bis zu dessen Ende im Jahr 1806. Es legte in lateinischer Sprache das Verfahren der deutschen Königswahl fest und war auf Initiative des römisch-deutschen Kaisers Karl IV. entstanden. Alle sieben Originalexemplare befinden sich in deutschen und österreichischen Archiven.
Seit 1992 sichert die UNESCO mit einem globalen digitalen Netzwerk den Erhalt historisch bedeutsamer Dokumente vor dem Vergessen. Es umfasst nun 299 Dokumente aus allen Weltregionen. Deutschland ist im Register jetzt mit 17 Einträgen vertreten, darunter mit der Gutenberg-Bibel, Beethovens Neunter Symphonie und dem Nibelungenlied. Die Herkunftsländer verpflichten sich, für die Erhaltung und Verfügbarkeit des jeweiligen Dokumentenerbes zu sorgen. Alle zwei Jahre kann jeder UNESCO-Mitgliedstaat zwei Vorschläge zur Aufnahme in das "Gedächtnis der Menschheit" einreichen.

BBAW würdigt Aufnahme von Karl Marx in das Dokumentenerbe der UNESCO

Quelle: http://www.juraforum.de/wissenschaft/bbaw-wuerdigt-aufnahme-von-karl-marx-in-das-dokumentenerbe-der-unesco-446188

BBAW würdigt Aufnahme von Karl Marx in das Dokumentenerbe der UNESCO


Die UNESCO hat am 18. Juni auf ihrer Tagung in Gwangju (Südkorea) entschieden, das Kommunistische Manifest und den ersten Band des Kapital von Karl Marx in das Weltregister des Dokumentenerbes aufzunehmen. Die Aufnahme in das Welterbe wird mit dem Einfluss dieser in alle Sprachen übersetzten Schriften auf die sozialen Bewegungen weltweit begründet. Der Antrag zur Aufnahme der Marxschen Schriften wurde vom deutschen UNESCO-Komitee gemeinsam mit dem Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte (IISG), wo der Großteil des handschriftlichen Nachlasses lagert, gemeinsam gestellt und von der BBAW unterstützt.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften begrüßt die Würdigung dieser Schlüsseltexte der Politik und Ökonomie von globaler Wirkmächtigkeit nachdrücklich. Durch die Entscheidung der UNESCO wird nicht nur die Bedeutung der klassischen Texte unterstrichen, sondern zugleich auf die Notwendigkeit der Pflege und Erschließung solcher Dokumente von globalem kulturhistorischem Rang hingewiesen.

Im Rahmen des Akademienprogramms des Bundes und der Länder wird an der BBAW die historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) federführend bearbeitet. Auch die Internationale Marx-Engels Stiftung (IMES), in der die nachlassbesitzenden Institutionen zusammengeschlossen sind, hat hier ihr Sekretariat.

Erst vor wenigen Monaten konnte die Kapital-Abteilung der MEGA fertig gestellt werden. In jahrelanger philologischer Detailarbeit wurden sämtliche bislang unveröffentlichten Manu-skripte zum Kapital, Engels’ Redaktionsmanuskripte sowie die Druckfassungen des Werkes in insgesamt 15 Bänden publiziert. Durch die erstmalige Präsentation des authentischen Textmaterials wird die ökonomiehistorische Forschung auf eine neue Basis gestellt. 

An der historisch-kritischen Edition des Manifests der Kommunistischen Partei wird noch gearbeitet. Hier ist nur eine Manuskript-Seite mit Entwürfen von Marx überliefert, zu dokumentieren sind jedoch abweichende Druckversionen. Auch die bislang unver-öffentlichten Studien- und Exzerpthefte von Marx sowie der gesamte Briefwechsel werden in der MEGA erstmals publiziert und ausgewertet, so dass Werk und Nachlass von Marx und Engels umfassend und im historischen Kontext erschlossen werden. Von den geplanten 114 Bänden der wissenschaftlichen, im Akademie Verlag erscheinenden Marx-Engels-Ausgabe liegen derzeit 61 Bände vor.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften feiert die Aufnahme der beiden Schriften von Karl Marx in das Welterbe mit einer Veranstaltung am 3. September 2013, um 18 Uhr, an der namhafte Experten beteiligt sind, u. a. Harald Bluhm, Professor für Politikwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Projektleiter der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe, Beatrix Bouvier, langjährige Leiterin des Karl-Marx-Hauses (Trier) der Friedrich-Ebert-Stiftung, Marcel van der Linden, Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte und Professor für die Geschichte der sozialen Bewegungen an der Universität von Amsterdam, Michael Quante, Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Birger P. Priddat, Professor für Politische Ökonomie an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke. Moderation: Gerald Hubmann, Arbeitsstellenleiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe. 

Pressekontakt: 
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Leitung Referat Information und Kommunikation
Gisela Lerch
Jägerstraße 22/23
10117 Berlin
Tel. 030/20370-657
Fax: 030/20370-366
E-Mail: lerch@bbaw.de

Weitere Informationen:
- http://www.bbaw.de/forschung/mega
- http://www.unesco.de/uho_6_2013_dokumentenerbe.html

Quelle: idw

Marx im Netz: Interview zur MEGAdigital. Eva Marlene Hausteiner


Quelle: http://www.theorieblog.de/index.php/2013/07/marx-im-netz-interview-zur-megadigital/

Marx im Netz: Interview zur MEGAdigital

1. Juli 2013, Eva Marlene Hausteiner


Die Marx-Engels-Gesamtausgabe ist eine imposante Größe der deutschen Editionslandschaft. Die Wurzeln des in den späten 1960er Jahren begonnenen Projektes reichen bis in die Sowjetunion der 1920er Jahre zurück – dazwischen liegen radikale Brüche: Im Rahmen der Stalinistischen Säuberungen wurde das Projekt abgebrochen und Mitarbeiter hingerichtet. Erst 1975 entstand, gegen Widerstände, in der DDR der erste neue Band. Nach 1989 wurden die Ausgabe entideologisiert, konnte aufgrund der philologisch einwandfreien Textsubstanz aber weitergeführt werden. 61 Doppelbände sind bislang veröffentlicht, 114 insgesamt geplant. Doch die MEGA entwickelt sich weiter: Seit 2005/2006 läuft das Pilotprojekt der MEGAdigital, die Marx und Engels ins Netz bringt und der Öffentlichkeit Recherchen und Textvergleiche erleichtern soll – bislang sind Teile des Kapital und der Vorarbeiten verfügbar. Zu diesem Digitalprojekt haben wir den MEGA-Arbeitsstellenleiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Gerald Hubmann, und die Projektleiterin Regina Roth befragt. Der Zeitpunkt passt – gerade wurden Marx’ Schriften zum Weltkulturerbe erklärt.

Was ist MEGAdigital – wie ist die Plattform entstanden und in welchem Verhältnis steht sie zur erscheinenden papierenen MEGA?

GH: Das Projekt ist im Zusammenhang der editorischen Arbeit an der Kapital-Abteilung der MEGA entstanden. Das Kapital ist ja keineswegs, wie von Engels und im Marxismus suggeriert, das abgeschlossene Hauptwerk von Marx. Die Bände zwei und drei wurden vielmehr durch Engels aus dem Nachlass von Marx herausgegeben. Engels hat dabei aus einer großen Masse unfertiger Manuskripte selektiert. In der Kapital-Abteilung der MEGA – insgesamt 15 Bände in 23 Teilbänden – wurde das gesamte Konvolut Marxscher Manuskripte in einer ganzen Reihe von Bänden mit Erstveröffentlichungen nun erstmals publiziert und in den Zusammenhang mit den redaktionellen Texten von Engels und den Druckfassungen der verschiedenen Auflagen gesetzt. Es bot sich nun an, das im Kontext dieses editorischen Unternehmens, das in deutsch-japanisch-russischer Forschungskooperation durchgeführt wurde, entstandene Datenmaterial, auf dem die Druckbände beruhen, auch zugänglich zu machen. Insofern lag unsere Intention weniger auf der öffentlichen Wirksamkeit als vielmehr auf einem weiteren Zugang zum edierten Material.

RR: Ausgangspunkt der Entwicklung von MEGAdigital war die Frage nach zusätzlichen Funktionalitäten durch eine digitale Aufbereitung von Texten in der MEGA, etwa über eine Volltextrecherche. Enorme Schubkraft erzeugte ein Projekt unserer japanischen Kollegen zur Erarbeitung eines kumulierten digitalen Sachregisters für alle Fassungen, Entwürfe und Ausarbeitungen zum 2. Buch desKapital. Das Besondere dieses Registers ist, dass sich damit die Genesis von Begrifflichkeiten von Marx in seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit seinem Projekt erschließen lässt, von den Marx’schen Manuskripten (MEGA II/11) über das Redaktionsmanuskript (MEGA II/12) bis zur Druckfassung (MEGA II/13). In den Einträgen zu den Sachbegriffen sind die Fundstellen in den jeweiligen MEGA-Bänden vermerkt; von diesen Fundstellen aus lassen sich die zugehörigen Texte parallel öffnen.

Die digitale Ausgabe ist ohne die Druckausgabe nicht denkbar, weil letztere zum einen eine langfristige Referenzierbarkeit gewährleistet, zum anderen weil dort die grundlegenden Zusammenhänge ermittelt und dokumentiert werden. Mit unserem “Gesamtpaket” wollen wir alle ansprechen, die sich mit Marx und Engels beschäftigen, interessierte Laien und Studenten ebenso wie das Fachpublikum verschiedener Disziplinen.

Die Print-MEGA umfasst ja mittlerweile 61 Doppelbände – ist denn eine Digitalisierung aller Texte inklusive der Kommentierungen angestrebt? Nach welchen Kriterien verläuft der Prozess der Selektion: Welche Texte dürfen ins Netz?

GH: Digitalisierung als solche ist nicht die primäre Aufgabe einer Edition, wenigstens nicht der unsrigen. Vielmehr steht am Anfang immer die aufwendige editorische Arbeit, die zunächst einmal unabhängig vom späteren Ausgabemedium ist. Egal ob für Buch, Netz oder DVD, die Handschriften müssen entziffert, Autorschaftsfragen geklärt – bei den zumeist anonym erschienenen publizistischen Arbeiten von Marx eine zentrale Frage –, Entstehungs- und Überlieferungsbericht erarbeitet werden. Insofern ist die Edition zunächst einmal keine Frage des Mediums. Für die MEGA gilt, dass sie primär eine Buchedition ist und zunächst auch bleiben wird. Das hängt damit zusammen, dass wir für komplizierte Formen des textkritischen Apparates, also für Varianten- und Korrekturendarbietung, über technische Lösungen verfügen, die sich im Buchsatz routiniert umsetzen lassen, noch nicht aber für die Darstellung im Netz.

Was die weitere Digitalisierung – auch die Retrodigitalisierung bereits vor dem digitalen Zeitalter erschienener Bände – anbetrifft, so zielen wir nicht auf möglichst große Textmassen, sondern wir möchten weiterhin projektbezogen operieren. Was bei MEGAdigital in Bezug auf das Kapital umgesetzt wurde, also die Zusammenhänge zwischen Manuskripten, redaktionellen Texten und Druckfassungen herzustellen, möchten wir auch in anderen Bereichen umsetzen. Lassen Sie mich als Beispiel die Feuerbach-Thesen nennen. Diese wurden bislang zumeist mit der Deutschen Ideologie zusammen abgedruckt, weil es so gut zu passen schien. Dort gehören sie aber nicht hin. Die Thesen stehen in einem Notizbuch von Marx aus dem Jahr 1845, das vollständig und authentisch in Band IV/3 der MEGA abgedruckt ist. Engels hat die Thesen dann erstmals im Anhang seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie veröffentlicht (MEGA I/30), aber erst in deren zweiter Auflage von 1888 (MEGA I/31) und in veränderter Form, so dass die Textabweichungen zu dokumentieren waren (Apparat von MEGA I/30, S. 792ff.) und sich in der Vorbemerkung außerdem zu den Thesen geäußert. Ein aus editorischer Sicht adäquates Digitalisierungsprojekt wird sich deshalb nicht in der digitalen Darstellung der Thesen erschöpfen können, sondern sollte darin bestehen, die komplexen Zusammenhänge und Bezüge darzustellen, indem die entsprechenden Passagen der Edierten Texte und der kommentierenden Apparate der Bände IV/3, I/30 und I/31 miteinander verknüpft präsentiert werden.

RR: Eine ersten Überblick über diese Zusammenhänge kann man sich in den Ausschnitten aus den entsprechenden Bänden auf dem edoc-Server der BBAW verschaffen, etwa hier und hier.

Wie darf man sich die technische Umsetzung dieses Projektes vorstellen? Wo liegen die Grenzen der digitalen Verfügbarmachung? Und einmal angenommen, Sie hätten unbegrenzte technische und personelle Ressourcen: Was wäre das gewünschte Maximalprojekt?

RR: Technisch betrachtet ist die digitale MEGA im Prinzip eine große Datenbank, in der alle editorischen Texteinheiten (Edierte Texte, Register, etc.) im XML-Format abgelegt sind, zusammen mit Abbildungen, Grafiken und Skripten für die dynamische Anzeige von Texten und Verknüpfungen. Voraussetzung ist, dass die Texte entziffert und geprüft und die Bezüge zu anderen Texten und Quellen ermittelt sind. Die Datenbank ist einbettet in eine Webanwendung, die modular aufgebaut ist, so dass jederzeit neue Textteile, MEGA-Bände, Apparatteile oder Funktionalitäten hinzugefügt werden können. Komplizierte Strukturen, seien es grafische Elemente, Brüche, etc. in den Texten oder synoptische Übersichten in den Varianten, können im Satz, wie Gerald Hubmann bereits sagte, aufgrund der langen Erfahrung mühelos dargestellt werden, während z.B. sich die Browsertechnologie dieser Vielfalt in der Anzeige erst nach und nach annähert. Beispielsweise können wir Brüche erst seit kurzem korrekt anzeigen, allerdings noch mit unterschiedlich guten Ergebnissen je nach Browser.

Wünschenswert wäre eine digitale Verknüpfung mit den von Marx und Engels genutzten Quellen, die mehr und mehr auch im Netz verfügbar gemacht werden; damit könnte man die Einbettung der Werke unserer Autoren in den zeitgenössischen Diskurs deutlicher sichtbar werden lassen.

GH: Denn wie gesagt, ist die Verknüpfung der in einer großen Edition sehr stark auf verschiedene Abteilungen verteilten Inhalte und Zusammenhänge ein großes Anliegen.
Darüber hinaus wäre die digitale Verfügbarkeit der gesamten Brief-Abteilung ein Desiderat, nicht nur für die Marx-Forschung. Denn die MEGA erfasst erstmals auch alle an Marx und Engels gerichteten Briefe von über 2000 Korrespondenzpartnern aus allen Ländern Europas und den USA. Damit wird ein völlig neues Untersuchungsfeld eröffnet: anders als bei der bereits gut erforschten Briefkultur des Bürgertums werden hier erstmals die Kommunikationsnetzwerke der politischen Emigranten und frühen Arbeiterbewegungen freigelegt. Aus der digitalen Verfügbarkeit dieser Materialien könnte ein großer Gewinn für die Forschung erwachsen.

Soll das digitale Projekt auch Möglichkeiten der Interaktion der LeserInnen einschließen?

GH: Einerseits liegt die primäre Aufgabe von Editionen sicherlich mehr in der Dokumentation und authentischen Präsentation von Textmaterial als in der Interaktion. Andererseits aber ermöglicht die digitale Präsentation durch ihren flexibelen Charakter die Einfügung von Nachträgen (wichtig insbesondere bei später aufgefundenem Briefmaterial), aber auch die spätere Ergänzung von Quellenfunden und der Kommentierung – auch durch NutzerInnen der Edition. Insofern bietet die digitale Präsentationsform auf jeden Fall Potenziale, die es zu nutzen gilt.

Versprechen Sie sich auch Impulse der MEGAdigital für die Marx-Forschung – verändert die digitale Verfügbarmachung Ihrer Meinung nach den Zugriff und das Lesen der Texte?

RR: Der digitale Zugang eröffnet neue Möglichkeiten, zum einen über die Volltextrecherche, zum anderen über die Visualisierung der Bezüge innerhalb verschiedener Fassungen und Ausarbeitungen. Dies wird neue Anregungen bieten, jedoch das Lesen im Kontext nicht ersetzen, sondern fruchtbar ergänzen.

GH: MEGAdigital in seiner jetzigen Form wird insbesondere Konsequenzen haben für die Zitierfähigkeit der weit verbreiteten MEW (Marx-Engels-Werke). Obgleich die Unzulänglichkeit dieser von den marxistisch-leninistischen Parteiinstituten herausgegebenen Ausgabe weithin bekannt ist, wird sie doch noch von vielen FachkollegInnen genutzt. Durch MEGAdigital wird es nun möglich, nicht nur die in der MEW gefundenen Belegstellen aus dem Kapital zu verifizieren und korrekt nach MEGA zu zitieren, sondern es werden überdies die Bezüge zu den Parallelstellen und zu den Marxschen Manuskripten dokumentiert – wenn das kein Mehrwert ist…



Dr. Gerald Hubmann, Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (Amsterdam) und Arbeitsstellenleiter Marx-Engels-Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Dr. Regina Roth ist Projektleiterin für MEGAdigital und Editorin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Marx-Engels-Gesamtausgabe Lauter Prolegomena. Helmut König


Quelle: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/lauter-prolegomena-1.18119594

Marx-Engels-Gesamtausgabe

Lauter Prolegomena

Literatur und Kunst 
 Y
Tai-Chi-Übungen im Schatten zweier steinerner Geister in Schanghai.
Tai-Chi-Übungen im Schatten zweier steinerner Geister in Schanghai. (Bild: Katja Hoffmann / Laif)

Etwas Megalomanisches klingt an: Die «MEGA», die Marx-Engels-Gesamtausgabe, veröffentlicht alles, was Karl Marx und Friedrich Engels je zu Papier brachten. Das monumentale Projekt begann, lange vor 1989, als Selbstfeier des «wissenschaftlichen Sozialismus»; inzwischen ist es ein Unternehmen der Ernüchterung.
Helmut König
Das Verhältnis zwischen Denken und Handeln, Theorie und Praxis kann man sich in dreierlei Weise zurechtlegen. In der ersten Variante gehen die Ideen der Praxis wie ein Blitz dem Donner voraus – oder besser: Sie kündigen und leiten als Geistesblitze den Donner an. In der zweiten Variante gehen die Ideen der Praxis nicht voraus, sondern liefern immer nur im Nachhinein den Sinn und den geheimen Plan, nach dem die Geschehnisse abliefen. In der dritten Variante schliesslich stehen die Ideen der Praxis nicht gegenüber, sondern sind ein Teil von ihr. Ideen zu entwickeln – zu denken, zu schreiben und zu reden –, ist dann selber eine Form von Praxis.
Karl Marx und Friedrich Engels verkündeten eine Kombination aus der ersten und der zweiten Variante. Sie meinten das Bewegungsgesetz von Geschichte und Gesellschaft entdeckt zu haben und mit diesem privilegierten Wissen auch eine führende Rolle in der revolutionären Umgestaltung der Welt in Anspruch nehmen zu sollen. Die kommunistische Weltbewegung erhob diese Meinung zum Glauben und machte den Marxismus zu einer allwissenden Theorie, die ihre Anhänger wie eine unfehlbare Führerin durch die Labyrinthe vergangener, gegenwärtiger und künftiger Geschichte sicher hindurchleitet.

Vorgeschichte

Die phantastischen Ansprüche der Marxschen Lehre und des Marxismus haben in der Gegenwart ihren Zauber verloren. Heute zeigt sich, dass die Schriften von Marx und Engels dann am besten zu verstehen sind, wenn man sie – in der Perspektive der dritten Variante – als Interventionen und Parteinahmen in einem stets umstrittenen und umkämpften Terrain ansieht. Jede Theorie, auch die von Marx und Engels, steht in einem Spannungsfeld, das sie nicht beherrscht, sondern von dem sie ihrerseits abhängig ist, auf das sie aber auch einzuwirken vermag.
Dieser ernüchternde Blick wird zunehmend unabweisbar dank der gigantischen Unternehmung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, in der alles, aber auch wirklich alles, was Marx und Engels jemals zu Papier gebracht haben, gedruckt und öffentlich gemacht wird. Solche Ernüchterung war nicht die Absicht, die sich mit der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ursprünglich verband, das Projekt zielte anfangs, im Gegenteil, in die Richtung einer Hagiografie.
Die mittlerweile neunzigjährige Geschichte der Marx-Engels-Editionen ist überaus aufschlussreich. Sie spiegelt und dokumentiert auf ihre Weise den Aufstieg, den Horror und den Untergang der kommunistischen Weltbewegung im 20. Jahrhundert. David Rjasanow, der damalige Leiter des Moskauer Marx-Engels-Instituts, hatte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Herausgabe der ersten MEGA begonnen. Rjasanow wurde dann zum Opfer des Stalinschen Terrors: 1931 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und verbannt, 1938 erschossen. Weitere Mitarbeiter an der Edition traf ein ähnliches Schicksal. Die Arbeiten an der Ausgabe wurden eingestellt.
Ab 1956 erschienen in Ostberlin die Marx-Engels-Werke (MEW), die zwar strengen historisch-kritischen Editionsprinzipien nicht genügten, aber dafür als Studienausgabe umso mehr Furore machten. Die legendären blauen Bände durften in keinem linken Bücherregal des westdeutschen roten Jahrzehnts nach 1967 fehlen, und in ungezählten Examensarbeiten, Seminardiskussionen, Dissertationen, Schulungskursen und Redeschlachten wurden sie zitiert. Die linken Gruppierungen, die nicht nur den Kapitalismus, sondern mit besonderer Vorliebe einander gegenseitig bekämpften, fanden hier reichlich Zitatenmunition für ihre Grabenkämpfe. Über die korrekte Auslegung des 24. Kapitels des «Kapitals» (MEW, Band 23), «Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation», wurde mit einer Erbitterung und Intensität gestritten, als stünde die Entscheidung über Sieg und Niederlage im bevorstehenden letzten Gefecht der Arbeiterklasse auf dem Spiel.
Derweil nahmen die kommunistischen Parteien in Moskau und Ostberlin Ende der sechziger Jahre Anlauf für eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe. Geplanter Umfang: 165 Bände. Bis 1991/92 erschienen davon insgesamt 40 Doppel- bzw. Teilbände. Mit dem Untergang des Realsozialismus stand die Edition auf der Kippe. Dank positiver Beurteilung durch unabhängige Gutachter und – jedenfalls hält sich hartnäckig das entsprechende Gerücht – dank einem Votum des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl stieg die MEGA wie ein Phönix aus der Asche des realen Sozialismus wieder auf. Helmut Kohl, so heisst es, habe die Verbreitung der Marxschen Lehre auf keinen Fall dadurch befördern wollen, dass auch nur im Entferntesten der Anschein erweckt werde, er wolle die weitere Publikation der Schriften verhindern. – Das wäre, wenn es so war, ein Gedanke von wahrhaft dialektischer Grösse.

Seriös und sorgfältig

Die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften nahm sich jedenfalls nun der Ausgabe an und stellte im Rahmen des von Bund und Ländern getragenen Akademieprogramms das Geld zur Verfügung. Die MEGA wurde auf 114 Bände verschlankt, von allen politischen Vorgaben befreit, akademisiert, internationalisiert und auf neue organisatorische Beine gestellt. Die Internationale Marx-Engels-Stiftung, 1990 in Amsterdam gegründet, fungiert als neue Herausgeberin, es gibt nach allen Regeln der wissenschaftlichen Seriosität eine Redaktionskommission und einen wissenschaftlichen Beirat, es gibt neue Editionsrichtlinien, und es gibt einen neuen Verlag, den Akademie-Verlag. Seit 2011 ist eine Reihe von Bänden auch digital frei zugänglich. Die Untergliederung der Ausgabe in vier Abteilungen wurde beibehalten: I. Werke, Artikel, Entwürfe; II. Das Kapital und Vorarbeiten; III. Briefwechsel; IV. Exzerpte, Notizen, Marginalien. Editoren in aller Welt erarbeiten die Bände, die Fäden laufen in einer Arbeitsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zusammen; 60 Bände sind insgesamt bisher erschienen.
Es ist – alles in allem – ein Wunder, dass es diese Ausgabe gibt, und es ist zu wünschen, dass sie vollständig zu Ende geführt wird. Sie ist ein Vorbild an Seriosität und Sorgfalt. In einem jeweils vom Text getrennten umfangreichen Apparatband wird alles geliefert, was man sich von einer historisch-kritischen Ausgabe nur wünschen kann: präzise Informationen zur Entstehung der Texte und zu ihrer Überlieferung, ein ausführliches Varianten- und Korrekturenverzeichnis, Erläuterungen, umfangreiche Register. Die ausführlichen Einführungen atmen allerdings doch noch hin und wieder den alten Geist leicht autoritär daherkommender Deutungen. Oftmals gehören sie nicht in einen Apparatband, sondern wären besser in den «Marx-Engels-Jahrbüchern» untergebracht, die sich als akademisches Forum einer wissenschaftlichen Debatte verstehen.
Die unglaubliche philologische Akribie, mit der die Editoren zu Werke gehen, könnte den Eindruck aufkommen lassen, dass wir – dann doch wieder – einer Heiligenverehrung beiwohnen. Den winzigsten Details, jedem Wort, jedem Buchstaben, jedem Feder- und Bleistiftstrich, wird eine Aufmerksamkeit zuteil, wie das bei der Dokumentation von Vorgängen eines Heilsgeschehens der Fall ist. Die Handschriften werden wie Reliquien behandelt, an denen alles und jedes bedeutend ist oder sich einmal als bedeutend erweisen könnte. (Freilich ist derlei auch bei philologisch akkuraten Editionen anderer Autoren zu verzeichnen.)
Aber die ausgefuchsten philologischen Techniken und Instrumente schlagen mit schöner Regelmässigkeit in ein Stück grandioser Aufklärung und Entheroisierung um. Das kann man zum Beispiel an der zweiten Abteilung ablesen, die mit dem jüngst erschienenen Band II/4.3 nunmehr vollständig vorliegt (Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863–1868, Teil 3, insgesamt 1065 Seiten, davon 403 Seiten Text, der Rest ist Apparat). Diese Abteilung enthält das wissenschaftliche Epizentrum des Werks von Marx und Engels. Im «Kapital» wollte Marx das Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft aufdecken und ihren unvermeidlichen Untergang mit wissenschaftlicher Exaktheit vorzeichnen. Und weil der Verfasser dieses umstürzenden Werkes angeblich etwas gesehen hatte, was zu sehen (fast) allen anderen verwehrt war, leitete er aus diesem privilegierten und absoluten Wissen die Berechtigung ab, gemeinsam mit seinem Freund und «General» Engels den überall in der industriellen Welt entstehenden sozialen Bewegungen des Sozialismus und des Kommunismus den richtigen Weg zu weisen.
Aber siehe da: Nun zeigen die 15 Bände (in 22 Einzelbänden) der zweiten Abteilung auf Tausenden von Seiten etwas ganz anderes. Sie zeigen, dass Marx der ersehnte Aufstieg aus dem Reich der Schatten in die Welt des wahren Wissens und der unbezweifelbaren Erkenntnis gründlich misslungen ist. Engels freilich wischte alle Zweifel beiseite und kompilierte aus einem unübersichtlichen Berg von Manuskripten, Entwürfen und Notizen, die Marx bei seinem Tod 1883 hinterlassen hatte, mit reichlich robusten und an Willkür grenzenden Eingriffen einen zweiten und dritten Band des «Kapitals». Und Engels erweckte zugleich den durchaus irreführenden Eindruck, dass Marx nur durch Äusserlichkeiten, durch Krankheiten vor allem, an der Vollendung seines wissenschaftlichen Hauptwerks gehindert worden sei.

Die «ökonomische Scheisse»

In Wirklichkeit lagen die Dinge ganz anders. Marx selber zweifelte zunehmend an dem «Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate», dem Dreh- und Angelpunkt der Untergangsprognose, die er der Ära des Kapitalismus stellte. Und überhaupt fügt sich sein Denken, Leben und Arbeiten ganz und gar nicht dem Schema, wonach jemand voller Überzeugung alles darangesetzt hätte, sein «Werk» zu vollenden – eines, das der Bourgeoisie und dem Kapitalismus die Totenglocke läuten würde. Jede Möglichkeit der Ablenkung von der «ökonomischen Scheisse», wie Marx sich auszudrücken pflegte, kam ihm gelegen. Nur zu gern verfasste er journalistische Gelegenheitsarbeiten, beispielsweise für die renommierte «New York Tribune». Nur zu gern verlor der promovierte Philosoph sich in der Lektüre von Fachbüchern nicht nur zu Ökonomie und Geschichte, sondern auch zu Mathematik, Geologie, Agrikultur, Chemie, Elektrizität, Physiologie . . .
Das alles stand nur in einem sehr lockeren Zusammenhang mit der Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie, die aber doch eigentlich hätte Vorrang haben müssen vor allen anderen Arbeiten. Und wo man einen direkteren Zusammenhang vermuten kann, wird es eher noch abstruser: Am liebsten hätte Marx mithilfe mathematischer Gleichungen der Bourgeoisie förmlich vorgerechnet, dass es mit ihr unweigerlich, sie mochte sich anstellen, wie sie wollte, bergab gehen werde.
Sichtbar wird hier ein Marx, der an seinem Hauptwerk keine Freude hatte und der deswegen auch keinen ernsthaften Ehrgeiz zu dessen Vollendung an den Tag legte. Sichtbar wird ein Marx, der sich vielfältig in dem Bemühen verfing, alles in seiner Zeit verfügbare Wissen in einem durchaus positivistischen Sinn in sich aufzunehmen, und der damit eigentlich dem Ideal eines universalen Gelehrten alter Schule anhing. – Kein Zufall also, dass Marx den letzten Universalgelehrten: Leibniz, so sehr bewunderte und sich voller Besitzerstolz zwei Stück Tapete aus dessen Arbeitszimmer über seinen eigenen Schreibtisch hängte.

Vorarbeiten ohne Ende

Sichtbar wird zudem ein Marx, der nicht über den Dingen und über seiner Zeit steht, sondern mit dem festen Glauben an Notwendigkeit, Produktivität und Evolution den vorherrschenden Denkfiguren des 19. Jahrhunderts zugehört. Und vor allem wird sichtbar: Die Marxsche Lehre ist ein grosser Torso, sie besteht aus lauter Fragmenten, die kaum einmal wirklich zusammenpassen. Es gibt keinen fertigen Text, kein Werk, sondern immer nur Anläufe, Notizen, Exzerpte, Schemata, Rechenexempel, Manuskripte, weitere Vorarbeiten, Vorklärungen, Ankündigungen, programmatische Absichtserklärungen – zur Verwirklichung kommt es nie. Der Text des ominösen Hauptwerks «Das Kapital» besteht aus nichts als Prolegomena, Prolegomena in Permanenz. Das alles gilt nicht nur für «Das Kapital», sondern etwa auch für die «Deutsche Ideologie». Deren Publikation in der MEGA, die noch bevorsteht und hoffentlich nicht mehr zu lange auf sich warten lässt, dürfte die nächste grosse Entmystifizierung des grossen Karl Marx bewirken.
Prof. Dr. Helmut König lehrt Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt politische Theorie und Ideengeschichte an der Rheinisch-Westfälischen Hochschule Aachen

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