27.09.2011
Mr. Marx - brillant und bissig
Marx-Engels-Forscher feierten in Berlin nicht nur neuen MEGA-Band
Von Karlen Vesper Die Sicht von Marx und Engels auf europäische Politik und Russland Mitte des 19. Jahrhunderts war das Thema einer zweitägigen Konferenz, zu der Wissenschaftler aus Europa und Asien sich in Berlin, im Domizil des Vereins Helle Panke, trafen. Sie feierten zudem das Erscheinen eines neuen Bandes der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): Band IV/26.
Marx-Engels-Forscher sind ein eigenartiges Völkchen. Der Eifer und die Empathie, mit der sie sich Leben und Werk ihrer Protagonisten widmen, suchen ihresgleichen. Selbst Tagungspausen werden nicht mit privater Plauderei vergeudet, sondern zum Austausch neuer Erkenntnisse, zur Diskussion strittiger Fragen und editorischer Probleme genutzt.
Neuhaus würdigte Marxens akribische Chronistenpflicht, über alle relevanten und auch scheinbar marginale Ereignisse in Europa, über Wirtschaft wie Politik zu berichten. Er pries dessen subtile Analysen diplomatischer Korrespondenzen und brillanten Schilderungen von Parlamentsdebatten. »So etwas lesen wir heute nur noch im Feuilleton der ‚Neuen Züricher Zeitung‘«, meinte Neuhaus, der selbstredend nicht vergaß, auch den Freund zu loben. Es sei noch heute faszinierend, wie authentisch und (relativ) aktuell Engels für die »Tribune« über das Kriegsgeschehen auf der Krim schrieb, ohne vor Ort zu sein.
Über die umstrittene Positionierung von Marx und Engels im Krimkrieg (1853 bis 1856) sprach Paolo Dalvit. Der Gast aus Mailand widersprach dem Vorwurf von Russophobie. Marx sah - wie andere Zeitgenossen - im zaristischen Russland den Gendarmen Europas, Bollwerk der Reaktion und ein barbarisches Völkergefängnis. Bemerkungen wie »finstere asiatische Despotie« sowie der Wunsch, es möge sich eine griechisch-slawische antirussische Partei gründen, speisten sich aus der registrierten Rückständigkeit und Rückwärtsgewandtheit des Zarenreichs. Über die nach der Niederlage im Krimkrieg einsetzenden Veränderungen in Russland und auch in Marxens Haltung sprach am zweiten Tag u. a. Giovanni Sgro (Neapel).
Aus dem heutigen Russland waren drei Forscher (Tatjana Ivanovna Filimonova, Svetlana Gavrilcenko und Valerij Fomicev) zur Tagung angereist - was Rolf Hecker vom Verein zur Förderung der MEGA-Edition als Ereignis herausstellte: »Für unsere Freude aus Japan und China ist es leichter in die deutsche Hauptstadt zu kommen.«
Geistreich, aber ...
Mit leuchtenden Augen zitierte Manfred Neuhaus, bis dato in Personalunion Leiter der MEGA-Arbeitsstelle in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, aus Artikeln von Marx in der »New York Tribune«. Dessen Mitarbeit als Europakorrespondent im »linksliberalen Blatt mit sozialistischem Einschlag Fourierscher Prägung« verdankte sich einer Begegnung 1848. Wie der sich nun in den rastlosen Ruhestand begebende Leipziger kundtat, weilte der Chef des außenpolitischen Ressorts der »Tribune« in diesem Revolutionsjahr bei den Marxens und war vom Esprit des Redacteurs en Chef der »Neuen Rheinischen Zeitung« ebenso eingenommen wie vom Charme der Gattin Jenny. 1851 folgte die Einladung, über Vorgänge in der Alten Welt für die Neuen Welt zu berichten - und zwar »geistreich und ungeniert«. Ein unnötiger Rat, entsprach dies doch dem Stil und Naturell des Philosophen aus Trier. »Mr. Marx« wurde nicht nur einer der am meisten geschätzten, sondern auch bestbezahlten Autoren der »Tribune«, die mit einer Auflage von 145 000 Exemplaren damals die »New York Times« weit übertraf,Neuhaus würdigte Marxens akribische Chronistenpflicht, über alle relevanten und auch scheinbar marginale Ereignisse in Europa, über Wirtschaft wie Politik zu berichten. Er pries dessen subtile Analysen diplomatischer Korrespondenzen und brillanten Schilderungen von Parlamentsdebatten. »So etwas lesen wir heute nur noch im Feuilleton der ‚Neuen Züricher Zeitung‘«, meinte Neuhaus, der selbstredend nicht vergaß, auch den Freund zu loben. Es sei noch heute faszinierend, wie authentisch und (relativ) aktuell Engels für die »Tribune« über das Kriegsgeschehen auf der Krim schrieb, ohne vor Ort zu sein.
Über die umstrittene Positionierung von Marx und Engels im Krimkrieg (1853 bis 1856) sprach Paolo Dalvit. Der Gast aus Mailand widersprach dem Vorwurf von Russophobie. Marx sah - wie andere Zeitgenossen - im zaristischen Russland den Gendarmen Europas, Bollwerk der Reaktion und ein barbarisches Völkergefängnis. Bemerkungen wie »finstere asiatische Despotie« sowie der Wunsch, es möge sich eine griechisch-slawische antirussische Partei gründen, speisten sich aus der registrierten Rückständigkeit und Rückwärtsgewandtheit des Zarenreichs. Über die nach der Niederlage im Krimkrieg einsetzenden Veränderungen in Russland und auch in Marxens Haltung sprach am zweiten Tag u. a. Giovanni Sgro (Neapel).
... ein Sturkopf
Dass Marx ein Sturkopf und bissig sein konnte, ließ Wolfgang Eckhardt (Berlin) wissen - nicht ohne zuvor ebenfalls das Erscheinen eines neuen Bandes zu vermelden, nämlich des sechsten einer auf 12 Bände konzipierten Bakunin-Ausgabe. In diesem sind Briefe enthalten, die den Konflikt zwischen Marx und Bakunin reflektieren. Jener begann mit der Gründung der Ersten Internationale (IAA) 1864. Marx erlitt zwei Abstimmungsniederlagen kurz hintereinander gegen Bakunin, einmal in der »Polen-Frage«, zum anderen bezüglich der Abschaffung des Erbschaftsrechts. Weshalb der Deutsche aus London wetterte: »Dieser Russe will offenbar Diktator werden, er soll sich sich in Acht nehmen, sonst wird er exkommuniziert.« Die Schlammschlacht, so Eckhardt, war strömungsgeschichtlich bedingt, lag in konträren programmatischen und strategischen Auffassungen begründet. Bakunins Meinung, Arbeiter in Parlamenten oder gar Regierungen würden nicht mehr Arbeiter sein und auf einst Ihresgleichen herabblicken, reizte Marx zur Attacke.Aus dem heutigen Russland waren drei Forscher (Tatjana Ivanovna Filimonova, Svetlana Gavrilcenko und Valerij Fomicev) zur Tagung angereist - was Rolf Hecker vom Verein zur Förderung der MEGA-Edition als Ereignis herausstellte: »Für unsere Freude aus Japan und China ist es leichter in die deutsche Hauptstadt zu kommen.«