Saturday, 12 February 2011

Tertulian, Prof. Dr. Nicolas: Leserbrief. In: DZPhil, Berlin 49 (2001), S. 983-985



Tertulian, Prof. Dr. Nicolas: Leserbrief. In: DZPhil, Berlin 49 (2001), S. 983-985
LESERBRIEF
Den in Ihrer Zeitschrift erschienenen Aufsatz "Die Hegelauffassung von Lukács und der
marxistische Linksheglianismus"*, auf den ich kürzlich durch "The Philosopher's Index"
(Nr.4/2000) stieß, habe ich mit großem Interesse gelesen. Es handelt sich dabei um einen
Text, den sein Autor, Panajotis Kondylis, einer Veröffentlichung nicht würdig befand, den
jedoch die Deutsche Zeitschrift für Philosophie als bedeutsam genug erachtete, um ihn
posthum zu veröffentlichen. Für eine bestimmte Lukács-Kritik ist er es in der Tat, insbe-
sondere für diejenige, die nicht auf der Lektüre seiner Werke gründet - deren Umfang und
Dichte für eilige Leser nicht geeignet ist -, sondern auf der Lektüre von Autoren, die be-
haupten, ihn gelesen zu haben. Ich überspringe die zahlreichen sehr fragwürdigen Anga-
ben, die Panajotis Kondylis zum intellektuellen Weg Lukács' macht (er stützt sich dabei auf
Autoren, die nicht gerade für eine stringente und objektive Darstellungsweise bekannt
sind wie Morris Watnick, G. Lichtheim, Fritz Raddatz) und begnüge mich damit, auf einige
augenfällige Irrtümer hinzuweisen.
a) Panajotis Kondylis schreibt auf Seite 349: "Die .Widerspiegelung' ist zentrale Katego-
rie in seiner Ästhetik, aber auf den 1800 Seiten seines Buches verliert Lukäcs kaum ein
Wort über die Musik, d.h. über diejenige Kunst, wo die Anwendung dieser Kategorie
am meisten problematisch ist." Nun aber widmet Lukäcs im zweiten Band der Ästhe-
tik mehr als 70 Seiten der Musik und ihrer besonderen Stellung unter den verschiede-
nen Kunstgattungen und ist weit entfernt davon, das Problem der "Widerspiegelung"
in der Musik zu umgehen - man werfe einen Blick in den Band II der Ästhetik, Kap. 4,
330-401, mit der Überschrift "Grenzfragen der ästhetischen Mimesis", das die Musik
und dann die Architektur behandelt. Dort unterbreitet Lukäcs eine eigene Theorie der
"Mimesis" in der Musik, wobei er von einer "Mimesis der Mimesis" oder einer "ge-
doppelten Mimesis" spricht, drücke doch der in der Musik auftretende "Kosmos der
Innerlichkeit" die Realität nur "in zweiter Potenz" aus (in diesem Sinn ist hier die Rede
von einer "musikalischen Mimesis der Empfindungen, in der, ebenso notwendig, ihre
Objekte in Unbestimmtheit verharren"). Man muss es ohne Umschweife sagen: Pana-
jotis Kondylis hat nicht nur die Ästhetik von Lukäcs nicht gelesen, er hat sie nicht einmal
aufgeschlagen.
Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis hätte ihn vor diesem Irrtum bewahrt.
b) Panajotis Kondylis kommentiert die Position Lukács' in Bezug auf Kant folgender-
maßen (Seite 346): "Es ist nicht nur ungerecht und einseitig, sondern einfach absurd,
Kant nicht der humanistischen Tradition, sondern (im Anschluss an Lenin) dem Irratio-
nalismus zuzurechnen." Auch hier irrt er sich aufs Schwerste. Bei Lenin war niemals von
einem "Irrationalismus" Kants die Rede, folglich konnte Lukács, auch wenn er es noch
so sehr gewollt hätte, diesen Weg nicht einschlagen. Des Weiteren hat Lukacs Kant nie
unter die Vorläufer des modernen Irrationalismus eingereiht. Er hat in ihm immer den
Beginn der klassischen deutschen Philosophie gesehen, eine Tradition, der er sich zu-
tiefst verbunden fühlte. Seine Kritik an Kants Erkenntnislehre oder an dessen Ethik hat
ihn nie daran gehindert, explizit die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für den Über-
gang des klassischen deutschen Denkens zum dialektischen Denken anzuerkennen (er
betont dabei den günstigen Einfluss des Buches auf Goethe und Schelling). In seiner
Ästhetik, einem Werk, das Panajotis Kondylis nicht gelesen hat, hebt er nachdrücklich
den Wendepunkt hervor, den die Kritik der Urteilskraft in der Geschichte der Ästhetik
darstellt: "Kant hat. mit der Genialität seines philosophischen Blicks für ästhetische
Probleme die hier behandelte Dualität in der ästhetischen Formung klar erkannt".
Panajotis Kondylis schreibt daher fälschlicherweise Lukacs eine globale Ablehnung des
kantischen Denkens zu und wirft ihm ohne ausreichende Begründung vor, Kant in die
Reihe der Irrationalisten gestellt zu haben.
c) Lukács' Thesen über den jungen Hegel bestreitend, schreibt Panajotis Kondylis (Seite
348): "Lukács verschweigt die ausdrückliche Bestätigung von Rosenkranz, dass Hegel
das Buch von Steuart mit polemischem ‚edlem Pathos' las und ‚das Tote desselben
bekämpfte'". Es wäre erstaunlich, wenn Lukacs, der vielleicht der Erste war, der die
.ökonomischen Studien' Hegels analysierte, diesen Text von Rosenkranz verschwiegen
hätte. Er widmet ihm auch in der Tat ein mit Die ersten ökonomischen Studien über-
schriebenes Unterkapitel in seinem Buch Der junge Hegel, wo er ihn in extenso zitiert
und nach Prüfung zu dem Schluss kommt, dass Hegel die ökonomischen Probleme der
kapitalistischen Gesellschaft im Licht seiner Kritik der "toten Positivität" betrachtet be-
handelte.2 Man kann sich fragen, ob Panajotis Kondylis das Buch tiber den jungen He-
gel tatsächlich gelesen hat, ein Buch, dessen wichtigste Thesen [er doch bestreilen
möchte
d) Wo Panajotis Kondylis sich über Lukács' Aktivität in der Zeit von 1933-1944 auslässt.
glaubt er, eine "allmähliche Annäherung seines Denkens an den vorher von ihm ver-
höhnten Mechanizismus" nachweisen zu können, eine Tendenz, die er schließlich "im
Vulgärsoziologismus seiner literaturkritischen Versuche über Balzac. Tolstoi. Dosto-
jewski usw." erreicht hätte. Es handelt sich hierbei um Meinungen, zu denen Panajotis
Kondylis mit Sicherheit erst nach der sorgfältigen Lektüre der Studien gelangt ist, in de-
nen Lukacs mit dem "Vulgärsoziologismus" polemisiert, und dies. indem er die Bedeu-
tung der Werke nicht in der diskursiven Ideologie der Schriftsteller sucht (wie es gerade der
"Vulgärsoziologismus" tat), sondern in ihrer ästhetischen Immanenz. In jedem Fall
rangiert Lukács' Buch über Balzac et Ie rélisme francais an vorderer Stelle unter den in
Frankreich anlässlich des zweihundertsten Geburtstags von Balzac 1999 wieder aufge-
legten Studien. Das sehr lobende Vorwort von Gérard Gengembre, einem Spezialisten
für französische Literatur und Professor an der Universität von Caen, hebt insbesondere
die Feindseligkeit Lukács' jeglichem "Reduktionismus" gegenüber hervor. Und der Es-
say über Dostojewski. 1943 zum ersten Mal in einer amerikanischen Zeitschrift veröf-
fentlicht, wurde der Aufnahme in eine dem russischen Schriftsteller gewidmete Antho-
logie für würdig befunden, die René Wellek, ein für seinen "Vulgärsoziologismus" nicht
gerade bekannter Literaturtheoretiker, 1962 veröffentlichte. Spezialisten für verglei-
chende Literaturwissenschaft wie George Steiner oder Peter Bürger betonten noch vor
kurzem die Fruchtbarkeit der Studien von Lukacs über den Realismus, wobei sie insbe-
sondere auf die Bedeutung seines Vergleichs zwischen Balzac und Zola hinwiesen.'
e) Es sieht auch nicht viel besser aus. wo Panajotis Kondylis versucht, eine intellektuelle
Biographie Lukács' zu skizzieren. Er behauptet zum Beispiel, dass "Lukacs, kurz vor sei-
ner Bekehrung zum Marxismus, in den Kreis von Stefan George eingetreten war" (342).
Falsch. Lukacs gehörte nie zum Kreis von Stefan George. Diese durch einige Biogra-
phen des Philosophen bis zum Verdruss wiederholte Legende war noch in den sechziger
Jahren offiziell dementiert worden von dem, den es anging. In einein Brief an die Zeit-
schrift Der Monat stellte Lukacs den Sachverhalt klar: Er kannte Gundolf durch den
Kreis von Max Weber, aber er hatte niemals Stefan George getroffen, noch Beziehun-
gen zu seinem Kreis unterhalten.

Panajotis Kondylis hielt es nicht für ratsam, diesen Text zu veröffentlichen, und meine Be-
merkungen sollen ihn nicht verletzen. Doch sollen unrichtige Behauptungen über Lukács,
wie sie in letzter Zeit so häufig aufgestellt werden, auch nicht unwidersprochen bleiben.

Aus dem Französischen von Hedwig Linden
Prof. Dr. Nicolas Tertulian, Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales, 54, boulevard Raspail, F-75006 Paris
*Nicolas Turtulian bezieht sich auf einen Beitrag von Panajotis Kondylis, den die Deutsche Zeitschrift
für Philosophie in ihrer Archiv-Rubrik publizierte in: Heft 2/2000, 341-350. Der Text von Kondylis
anstand Mitte der siebziger Jahre des 20. Jhs. (Anm. d. Red.)
1 Lukács, Ästhetik, I. Halbband, 331.
2 Vgl. ders., Der junge Hegel. Berlin 1954. 211
3 Vgl. das Buch von: Eva L. Corredor, Lukács after Communism. Duke 1997

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