Neuer MEGA-Band mit naturwissenschaftlichen Studien von Marx und Engels
Daß Karl Marx zu den letzten großen Universalgelehrten gehört – in Traditionen der europäischen Aufklärung, aber auch des Systemdenkens des deutschen Idealismus stehend –, ist ein Faktum, das heute hinter seine Rezeption als primär politischer und ökonomischer Autor zurückgetreten ist. Obwohl Marx sich in allen Perioden seines Schaffens auch mit Naturwissenschaften befaßt hat, bilden diese naturwissenschaftlichen Studien bis heute eine wenig beachtete Seite seiner theoretischen Arbeit.Der vorliegende Band dokumentiert eine der intensivsten Phasen von Marx' Beschäftigung mit den Naturwissenschaften in der Periode nach 1870, in der er umfangreiche Exzerpte zur Physiologie, Mineralogie, Geologie, Chemie, Physik und Elektrizität anfertigt. Den größten Teil des Bandes nehmen seine Exzerpte und Notizen zur anorganischen und organischen Chemie ein. Dabei bildet die klassische Chemie auf dem Stand von 1870 einen Schwerpunkt, für den die Einführung des Periodensystems, die Atom- und Molekulartheorie sowie die Struktur- und Bindungstheorie kennzeichnend waren. Marx benutzt einschlägige Standardwerke jener Zeit (Lothar Meyer, Henry Enfield Roscoe, Carl Schorlemmer, Wilhelm Friedrich Kühne), auch Schriften zur Physik (Benjamin Witzschel), Physiologie (Ludimar Hermann, Johannes Ranke) und Geologie (Joseph Beete Jukes). Neben der Zusammensetzung von Stoffen interessieren ihn Angaben über ihre Gewinnung, ihre Eigenschaften und die Möglichkeiten ihrer Nutzung in Industrie und Landwirtschaft. Es beschäftigt ihn aber auch die Frage, inwieweit Analogien im theoretischen Fundament von Chemie und politischer Ökonomie nachweisbar sein könnten. Ein Exzerpt zur Elektrizitätstheorie (Edouard Hospitalier) schließt den ersten Teil des Bandes ab.
Der zweite Teil enthält zwei Exzerpthefte mit Auszügen aus Werken von William Thomson und Peter Guthrie Tait, Carl Fraas und Hermann von Helmholtz sowie aus einem Werk von Gustav Wiedemann, die Friedrich Engels während seiner Arbeit an der „Dialektik der Natur" (MEGA I/26) angelegt hat. Sie lassen erkennen, wie sich Engels nicht nur anhand anerkannter Werke auf dem Gebiet der theoretischen Mechanik und Elektrizitätslehre sachkundig machte, sondern auch schon, einzelne Punkte kritisch kommentierend, gleichsam die Argumentationslinien für die Kapitel über „Grundformen der Bewegung", „Maß der Bewegung - Arbeit" und „Elektrizität" entwarf. Und wie Marx notiert auch Engels die 1881 in Paris vereinbarten neuen Maßeinheiten der Elektrizitätslehre.
Der Band enthält fast ausschließlich bisher unveröffentlichte und weitgehend unbekannte Materialien. Mit ihrer Publikation werden nicht nur neue Perspektiven in der Sicht auf Marx und seine Stellung in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts eröffnet, sondern umgekehrt spiegeln sich in den zu verschiedenen Zeiten niedergeschriebenen Exzerpten und Notizen auch die Genese und Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften selbst. So ergeben sich – zusammen mit den Kommentaren im Apparatband – detaillierte Einblicke in die Geschichte der Chemie und der Elektrizitätslehre des 19. Jahrhunderts und in zahlreiche Arbeiten von heute fast vergessenen Forschern. Und schließlich werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Erkenntnisinteressen von Marx und Engels und ihrer jeweiligen Rezeption naturwissenschaftlicher Forschung erkennbar: Während Engels zeitlebens eine dialektische Interpretation naturwissenschaftlicher Ergebnisse beibehält, scheint sich bei Marx eine Hinwendung zu analytischen Denkmodellen anzudeuten.
Inhalt und Einfuehrung
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